Ankunft im Leben

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Wie entsteht Hinwendung zu Gott? Sylvia Wolff, geboren 1967 in Halle, lebt und arbeitet als Malerin und Autorin in Wandlitz bei Berlin. Im Heiligen Land wurde sie als Erwachsene getauft und empfing zum ersten Mal die Heilige Kommunion. In anregendem, bilderreichem Schreibstil zieht Sie die LeserIn mit hinein in ihre spirituelle Suche. Ursprünglich ist der Text als Nachwort zur Ihrer untengenannten Publikation erschienen.

Ich hatte es mein Leben lang mit Booten. Große Schiffe haben mich schon immer fasziniert. Aber auch kleine, die still im Wasser lagen. Und ich liebte Steine. Steine auf Haufen. Steine auf Wegen. Steine im Wasser. Steine in Häusern. Manchmal verschließen Steine auch Türen. Habe ich immer darauf gewartet, dass mein Leben irgendwann anfängt? Als Kind fand ich auf einer Insel – ihr Name ist nicht von Bedeutung – am Strand einen grauen Stein. „Sieht aus wie ein Schaf!“, dachte ich. Ich hielt ihn scharf auf den Strich unterm Himmel, schob ihn in meine Anoraktasche und schaute weiter auf das Meer.

Sehnsucht. Nachts lag ich oft wach im Bett und zählte Schatten. Nichts Besonders. Ich denke, das machen alle großen Leute, wenn sie klein sind. Warten auf den Morgen, mit all diesen vielen Fragen, die wir in die Schatten werfen. Eines Tages stand ich auf mit der Gewissheit, einer Antwort nachzujagen. „Ich glaube daran, dass es etwas gibt, was größer ist als wir selbst!“

Tausendmal die Nase aufgeschlagen, immer Lebenshunger, Liebe gesucht, Hände aufgerissen … unerfüllt. Den Stein habe ich heute noch. Die Gewissheit blieb.

Mit sechzehn dann weg von zu Haus. Hochschule in Rostock. Wieder am Meer. Das Kind wurde Schauspielerin. Beruflich im Osten eine Nische, in der Sehnsucht, in der Freiheit und Träume gelebt werden durften. Zehn Jahre Engagements an verschiedenen Theatern. Applaus. Erfolg macht noch lange nicht glücklich. Zwischendurch die Wende. Ich erlebte sie bei Proben für ein Bühnenstück für Kinder. Die Maueröffnung zerbrach ein Weltbild, öffnete Türen, verschloss alte Horizonte. Grelle Farben statt grau. Farben. Im Westen aß ich zum ersten Mal Kiwis. – Ich begann zu schreiben, zu malen, dachte, ich muss doch Frieden empfinden, bei allem, was ich tue. Bleibt das aus, dann muss ich doch gegen alle gefundene Sicherheit hin zur Sehnsucht in meinem Herzen zurück, im Haus des Lebens weiter wandern.

Ausstieg aus dem Beruf. Verschiedene Jobs. Ich suchte Lebenssinn. Glück. Ich zog mit meiner Tochter nach Berlin. Ging Irrwege, Umwege, verstrickte mich im Geflecht ungeglückter Beziehungsstrukturen. Mein Menschsein umfing Leere. Damit war ich nicht allein. Irgendwann fing ich an, in der Schublade zu kramen, in der der Stapel kleiner bunter Bücher lag. Sie hatten verschiedene Größen und verschiedene Einbände. Manche hatten viele beschriebene Seiten und in manchen standen nur wenige Worte. Meine Tagebücher. Jedes eine Metapher für einen Neuanfang. Jedes ein Atem. Jedes eine Sehnsucht.

Selbst bin ich im Jahr 2000 getauft. Alle esoterischen Richtungen erfüllten mich nicht. Ich hatte gesucht in verschiedenen Religionen. War gereist. Die Türen führten immer in Sackgassen. Wo ich auch hinging, das Netz von Sinnfragen klebte an meinem Fuß. Im Frühjahr 2000 saß ich in meiner Wohnung mit einer Freundin beim Frühstück. Sie erzählte von ihrer großen Liebe, ein Afrikaner, den sie in der U-Bahn kennengelernt hatte. Sie würden auf seine Aufenthaltsgenehmigung warten, um zu heiraten. Die Volontariatsstelle in Jerusalem könne sie nun nicht annehmen. Ich stellte die Teekanne hart auf den Tisch und hörte mich sagen: „Kann ich nicht für dich fliegen?“ Zwei Monate später war ich in Jerusalem. Arbeit in einem katholischen Pilgerhaus. Nach fünf Stunden wollte ich abreisen. Ich bin doch geblieben.

Das Paulusheim befindet sich gegenüber dem Damaskustor. Natürlich wusste ich um die Konflikte im Heiligen Land. Wonach ich mich sehnte, war Ruhe. Was ich dort fand, war alles andere. Ich arbeitete bei den Schwestern und wenn ich frei hatte, versuchte ich herauszufinden, was mich in diesem Land so eigenartig berührte. Kein Land, das ich bereist hatte, trug in seinem Innern so viel Aggression und keines so viel Liebe. Ein Land, das seine Heimat sucht. Heiliges Land? – Alle hatten irgendwie einen „Draht zu Gott“, und ich fragte mich: „Warum spricht er nicht auch mit mir?“ – Die Schwestern stellten mir die Räume eines Naturkundemuseums zur Verfügung. Räume mit Geschichte. Geschlossen. Mein Atelier. Nachts, wenn es draußen zu laut war, um zu schlafen, habe ich gemalt. Kreide. Mit den Fingern direkt aufs Papier.

Irgendwann gab mir jemand seine Bibel. Ein zerlesenes kleines Buch mit vielen bunt markierten Zeilen. Farbe. Lachend fragte ich: „Da also soll drin stehen, was hier vor 2000 Jahren passiert ist?“ – Das war am See Genesaret zwischen Tabgha und Kapernaum. Steine am Wasser. Zwischen den Steinen lag Müll. Hinten am Horizont Syrien. Die Golanhöhen. Ich begann zu lesen, lange, mittags bei 44 Grad Hitze. „Leg deinen Krimi endlich weg und komm rein!“ – Ich ging ins Wasser. Es war angenehm kühl. Mich berührte etwas. Ich wusste nicht was. Später in der Brotvermehrungskirche in Tabgha sah ich das Mosaik am Boden. Vor Jahren hatte ich ein Bild gemalt. Drei Häuser, ein Mensch und ein blauer Fisch. „Sieht aus wie ein Kinderbild“, hatte ich gedacht, und ich wollte es eigentlich wegwerfen. Und jetzt strahlte vor meinen Füßen „ein kleiner blauer Fisch“. Immer war für mich klar gewesen: Die Bibel ist ein Märchen. Hier holte mich etwas ein. Meine Seele fühlte sich an wie ein Reibeisen. Hier begegnete mir jemand. Hier kam jemand auf mich zu. Wer war dieser Jesus?

Ich begann in die Frühmesse der Schwestern zu gehen. Ich wunderte mich über die Gesten und das „Auf und Nieder“. Wie Sportübungen, dachte ich. So fremd. Mit wem sprechen die? Wen lieben sie so, dass sie ihn anbeten, und was macht sie scheinbar so glücklich?

Irgendwie fing ich damals an zu beten, weil das alle taten. Eine Woche vor meiner Abreise sagte der Pfarrer auf dem Gang zum Speisesaal: „Wenn Sie wollen, kann ich Sie taufen.“ – „Was soll sich denn ändern, wenn Sie mich mit Wasser überschüttet haben?“ – Und er meinte: „Das werden Sie merken. Das kommt von innen!“ Offenheit.

Zwei Tage später führ ich mit ans Tote Meer. Missionsgottesdienst. Eigentlich wollte ich baden. Stattdessen saß ich im Klubraum eines Kurheims, in dem ein deutscher Gottesdienst stattfand. Nach dem Raum musste ich suchen. Das Haus war groß und um mich herum hörte ich viele Sprachen. Kurz vor Beginn kam eine Frau in den Raum. Sie ging zum Pfarrer und bat, eine Meditation vorlesen zu dürfen. Der verzichtete dafür auf die Predigt. Und da waren sie plötzlich da, diese Worte, die endlich in meine Fragen griffen. Was ich aus den Worten der Frau erinnere, ist: „Als du einsam warst, hielt ich deine Hand, aber du spürtest sie nicht. Als du nach mir schriest, fielen deine Worte in mein Gesicht, aber du hattest keine Augen, mich zu sehen. Als du krank warst, habe ich vorsichtig deine Stirn kühlen wollen, aber du vergrubst sie in deinem Kissen. Als du weintest, habe ich dich trösten wollen, aber dein Herz wollte mich nicht hören. Als du endlich voll Bitternis deinen Spiegel zerschlugst, habe ich die Scherben zerstreut, damit du dich nicht schneidest.“

Es war schon dunkel, als wir mit dem klapprigen Auto nach Jerusalem zurückfuhren. Die Schwester hielt auf dem Beifahrersitz lachend ein Thermometer aus dem Fenster und freute sich, wenn es dem Pfarrer gelang, durch die Fahrtgeschwindigkeit die Gradzahl zu senken. „Sind die verrückt oder bin ich es?“, dachte ich, aber ich fühlte: Ich fahre nach Hause. Hatte Jesus mein ganzes Leben vergeblich versucht, mich anzusprechen? War er mir geduldig nachgelaufen? Hatte er sich immer wieder beschimpfen, anklagen, wegstoßen lassen – bedingungslos liebend, ohne auch nur eine Antwort von mir zu erhalten? Nach all den Jahren fühlte ich seine Arme und sah ihn endlich an. Exodus: „Ich öffne dir das Meer, hindurch gehen musst du allein.“

An einem Freitagmorgen kurz vor der Abreise lernte ich das „Vaterunser“ auswendig. Abends erhielt ich die Taufe und am nächsten Morgen die erste Kommunion. Mittags saß ich im Flugzeug mit einer Plastikflasche in der Hand, in der sich mein Taufwasser befand. Drei Stunden später stand ich an einem Förderband auf dem Flughafen Berlin-Tegel und wartete auf mein Gepäck. Es regnete, als ich aus dem Gebäude trat. Ich war bepackt wie ein Esel. Ein unbekannter Mann fragte: „Darf ich Ihnen die Taschen zum Taxi tragen?“ Er hatte für jemanden eine Rose in der Hand. Zum Abschied winkte ich ihm lachend zu. Wasser an den Scheiben. Der Taxifahrer war Ausländer. Araber. Wir fuhren in die Stadt, und ich wusste: „Mein ganzes Leben hat sich verändert.“ Alle Uhren standen still, und ich vertraute auf dieses Wort: „Das kommt von innen!“ Zu Hause suchte ich nach dem Stein, den ich als Kind am Strand gefunden hatte. Ich hielt ihn ans Licht und dachte: „Der sieht wirklich aus wie ein Schaf!“

Die einzige Sprache, in der Gott mit uns sprechen kann, ist die Sprache der Liebe. Sie hat viele Farben und viele Namen. Öffnungen im Meer. – „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Mein Taufspruch. Sterben wir, um zu leben? – Mein Leben stand „Kopf“. Kein Stein blieb auf dem anderen.

In Deutschland kannte ich niemanden, der katholisch war. Meine Tochter hielt mich für „verrückt“. Ich suchte wieder Anschluss unter Christen. Manchmal nicht gerade leicht. Das wäre eine Geschichte für sich. Erstaunt stellte ich fest, wie viele Facetten die „eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“ hat. Ein buntes Bild auch hier. Ich suche immer noch – aber nicht allein … Gott, wo bist zu Hause? Ich kam mir vor wie in einem Labyrinth.

Würde man mich fragen: „Wie kann ich Gott finden?“, würde ich antworten: „Bete einfach!“ Die Gnade in unseren Herzen wartet ein Leben lang, um endlich angenommen zu werden. Tief auf dem Seelengrund weiß jeder Mensch von der göttlichen Antwort. Dort findet Glaube zur Gewissheit. Im Alltäglichen warten Glück und Lebenssinn. Und von dort finden Menschen die Kraft, aufeinander zuzugehen, die sich in den Konsumtempeln unserer Zeit oder sonstwo verloren haben. Die Zeugnisse dieses Buches sind auf ihre Art Antwort auf das Wort der Bibel, „bereit zu sein, zur Verantwortung jedem gegenüber, der Rechenschaft von euch fordert, über die Hoffnung, die in euch lebt“ (1 Petr 3,15). Und dafür muss man nicht Theologie studieren. Wenn es denn auch nicht schadet.

Ich lief auf Steinen, rechts war Meer und links war mehr Land. Mein Schuh war es, der sich derb auf einen Weg schob, hob, in kleine Mulden trat mit Sand und kleine Kiesel vergrub in die noch kleineren. Wasser, das spült. „Und da findet sie keiner mehr“, dachte ich wütend. Hier findet mich keiner mehr. Hier bin ich im Meer. Hier bin ich weiter als mein Haus, und mein Arm legte sich flach auf das Meer und „wir“ tranken. Das ist unser Geheimnis. Ich wusste mit dem Lamm, das ich fand, nichts anzufangen, aber es sah so schön aus. Meine Hand umschloss den Stein und ich steckte mit dem Meer Liebe in meine Anoraktasche. Ich ging weg von dem Strand, und das Lamm vergrub ich in meinem Schrank. Viele Schubladen, Kartons und Wohnungen hat es gesehen. Gespräche belauscht, Tränen gehört, und es hat stumm gewartet. Manchmal hielt ich es weit in die Höhe und sagte: „Guck mal, das sieht doch aus wie ein Schaf!“ Ich sah in sein Auge und legte es zurück in sein Versteck. Viele Jahre lag es in der Falte meines inneren Meeres. Ich suchte nach Liebe, landeinwärts und verstand seinen Blick nicht. Sein Auge sah immer in die gleiche Richtung, aufs Meer. Das Schaf schaute land-auswärts einen Spalt ins Wasser, ein enges Tor, eine hohle Gasse. Ich schlief, und als ich aufwachte, lag ich am Ufer, immer noch.

Die einzige Sprache, in der Gott mit uns sprechen kann, ist die Sprache der Liebe. Sie hat viele Farben und viele Namen. Einmalig, unwiederholbar ist jeder seiner Versuche, uns Menschen anzusprechen. Jedes Leben schreibt so seine eigene Liebesgeschichte. Eine Geschichte, die diesem Buch hinzuzufügen wäre …

Links/Literatur

Website mit Kunstwerken der Autorin

Demnächst erscheinende Fortsetzung: Wolff, Sylvia, Ankunft im wahren Leben. 15 Jahre nach ihrer Taufe – Begegnung mit Erwachsenenkatechumenen, Leipzig 2016.

Aus: Wolff, Sylvia, Ankunft im Leben. Begegnungen auf dem Weg zu Gott, Vallendar 22009, 220–226.