„Statt in den Beichtstuhl gehen die Menschen heute zum Psychiater!“, so beklagen einige den Rückgang der Beichtpraxis. Im Gegensatz dazu macht Wolfgang Friedl, Pastoralreferent im Asklepios Fachklinikum Göttingen und im Beratungs- und Seelsorgezentrum Ancora, deutlich, wie Kirche psychisch erkrankten Menschen mit ihren eigenen spezifischen Ressourcen zur Seite stehen kann, ohne eine Psychotherapie zu ersetzen. Trotz der vernommenen Klage sind viele Gemeinden mit der Sorge um psychisch Kranke alleine überfordert.
Situationsbeschreibung
Kennzeichnend für viele psychisch erkrankte Menschen ist eine hohe Verletzbarkeit ihrer Seele gegenüber belastenden Gegebenheiten, traumatischen Erlebnissen oder krankmachenden Einflüssen. Sie leiden an einer Erkrankung, die sie bis in ihre Seele hinein verunsichert und ihre gesellschaftliche und auch kirchliche Integration bröckeln lässt. Viele Kranke kommen mit den gestellten Anforderungen und auch mit sich selbst nicht mehr zurecht. Sie halten sich für minderwertig oder schuldig (Depression). Sie fühlen sich verfolgt, erleben sich und die Welt verzerrt oder in ständiger Gefahr (Psychose). Sie übersteigern ihre tatsächlichen Fähigkeiten und übertreten Grenzen (Manie). Oder sie vernachlässigen die sozialen Kontakte und sind nicht mehr in der Lage, diese aufrechtzuerhalten.
Die Folgen der Erkrankung sind dann für sie selbst, aber auch für die Menschen in ihrer Umgebung deutlich erlebbar: Ein Verlust des Selbstwertes findet statt, soziale und familiäre Bindungen lösen sich, häufig folgt Arbeitslosigkeit, verschiedene Abhängigkeiten können sich einstellen, gesellschaftliche Isolierung, Welt- oder Sektenflucht werden begünstigt.
Während ihres Aufenthaltes in einer psychiatrischen Klinik werden die Erkrankten medikamentös eingestellt und nehmen an einer Reihe von Therapien und strukturierenden Maßnahmen teil. Davon profitieren sie in der Regel, sind zunächst stabiler, aber noch nicht gesund. Mit dem Tag der Entlassung kehren sie meistens wieder in ihre bisherigen Verhältnisse zurück. Sie behalten ihre seelische Grundstruktur, ihre hohe Verletzbarkeit, ihre Erfahrungen oder ihre psychotischen Wahrnehmungen. Alte Muster kehren wieder. Während des Klinikaufenthaltes erworbene Kompetenzen gehen verloren, aufgebaute Kontakte werden nicht reaktiviert. Die Folge ist nicht selten eine baldige Wiederaufnahme ins Krankenhaus oder die langfristige Überführung in eine betreute Einrichtung, die manchmal mit einem enormen Autonomieverlust verbunden ist.
Erfahrungen in der Seelsorge mit psychisch erkrankten Menschen
Gerade nach der Entlassung und der Beendigung klinischer Therapien suchen und brauchen diese Menschen Ansprechpartner, Hilfen bei der Lebensbewältigung, Raum für angstfreie Begegnung, Kontakte zu Gruppen und Gemeinden, spirituelle Begleitung, Gebete. Viele von ihnen sind religiös sozialisiert und haben einen hohen Bedarf nach spiritueller Orientierung. Die Kirchengemeinden bieten mit liturgischen und karitativen Angeboten manche Möglichkeiten, diese Menschen mit ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten anzusprechen. Viele Gemeindegruppen (z. B. Chor, Gesprächs- oder Familienkreis) sind aber bei der Integration eines z. B. depressiv oder zwanghaft Erkrankten oder eines Manikers häufig überfordert.
Nach mehrjähriger Tätigkeit als Seelsorger in einer psychiatrischen Fachklinik, in der ich viele Erkrankte, deren Angehörige und Mitarbeiter mit Einzelgesprächen, spirituellen Gruppenangeboten, Gottesdiensten in der Trauerarbeit und Lebensberatung begleiten konnte, erschien es mir zunehmend dringlicher, den Betroffenen auch nach der Entlassung mit seelsorglichen Angeboten zur Verfügung stehen zu können. In der Kooperation mit der katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung fanden sich dann gemeinsame Räumlichkeiten dafür in einer Göttinger Innenstadtgemeinde. Unter dem Namen „Ancora“ (Ankerplatz) entstand ein Beratungs- und Seelsorgezentrum mit ambulanten Seelsorgeangeboten. Dort können Menschen mit Psychiatrieerfahrung an niedrigschwelligen Gesprächs- und Malgruppen teilnehmen und regelmäßige Einzelgespräche erhalten. Diese ersetzen keine Psychotherapie, sind aber therapeutisch wirksam und stützend. Die spirituellen Ressourcen und Glaubensvollzüge, die die Kirche in ihrer langen Geschichte in Form von Martyria, Leiturgia und Diakonia entwickelt und kultiviert hat, können von den Erkrankten je nach ihren Möglichkeiten dort und in der von Jesuiten geleiteten Pfarrei auf gleichem Grundstück genutzt werden. Manche Betroffene sind für gemeinschaftliche Aktivitäten (noch) nicht in der Lage und benötigen engere personale Einzelkontakte, andere können sich auf Gemeinschaftsangebote einlassen und nutzen dann zunehmend auch die Möglichkeiten der Gemeinde in Form von Gottesdiensten, Glaubenskursen u. Ä. Für nicht wenige chronisch erkrankte Menschen haben die dort gemachten Erfahrungen zur religiösen Annäherung an ihre eigenen spirituellen Wurzeln beigetragen. Die erfahrene Wertschätzung und Gemeinschaft führte zur Christusbegegnung.
Als von großer Wichtigkeit haben sich für mich als Seelsorger darüber hinaus die Mitarbeit in kommunalen Arbeitskreisen und im Sozialpsychiatrischen Verbund der Kommune sowie die gewachsenen Kontakte zu Mitarbeitern anderer helfender Einrichtungen (wie Betreuungsvereinen, ‑werkstätten, Wohnheimen und niedergelassenen Therapeuten) herausgestellt. Die Einbindungen in städtische Netzwerke entwickelten sich unterschiedlich schnell. Es hat sich daraus u. a. das „Göttinger Psychiatrieforum“ in kirchlichen Räumlichkeiten entwickelt, in dem regelmäßig psychiatrieerfahrene Menschen mit Angehörigen und Therapeuten auf gleicher Augenhöhe im trialogischen Austausch von den Erfahrungen der jeweils anderen profitieren. In diesem Bereich engagieren sich zunehmend von Krankheit Betroffene und Menschen aus sozialen Einrichtungen ehrenamtlich. Sie gehören zum Vorbereitungsteam oder übernehmen kleine praktische Aufgaben. Dabei knüpfen sie alltagstaugliche und hilfreiche Kontakte für kranke und gesunde Zeiten. Auch bei Gemeindemitgliedern ist spürbar, dass sich Sichtweisen ändern. Sie kommen immer wieder in Berührung mit Personen, von deren psychischer Erkrankung sie wissen oder ahnen. Mit häufigerem Sehen schwindet die Neigung, sich von ihnen zu distanzieren, Tabugrenzen schmelzen. So kümmern sich die Mitglieder eines Gemeinde-Familienkreises seit vielen Jahren in unkomplizierter Weise um einen zwangserkrankten Herrn, den sie regelmäßig in ihre Aktivitäten einbinden, nach dem sie fragen und dem sie dadurch helfen, seine Integration aufrechtzuerhalten.
Durch solche Erfahrungen und Kontakte erlebe ich, dass auch im größeren gesellschaftlichen Kontext die Authentizität, Transparenz und Offenheit in der seelsorglichen Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen sehr genau wahrgenommen, geschätzt und angefragt wird. Der verantwortliche Mitarbeiter eines ambulanten Betreuungsvereines brachte nach einem Vortrag über die seelsorglichen Angebote für psychisch Erkrankte Erstaunen zur Sprache: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Kirche ein so hohes Interesse an unserer Klientel hat und man mit ihr rechnen kann.“