Auf der Spur zu einer neuen Kirchengestalt

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Wie findet Kirche in Deutschland zu einer neuen Gestalt? Pater Alex Lefrank SJ hat mit mehreren Beiträgen auf die derzeitige kirchliche und gesellschaftliche Umbruchssituation aufmerksam gemacht. In diesem Buchausschnitt skizziert er stichworthaft die Spur zu einer neuen Kirchengestalt, indem er notwendige Abschiede, Visionen, Gefahren und Wegmarken benennt.

Wovon wir uns verabschieden müssen

Im Folgenden wird schlagwortartig formuliert, wovon wir uns in der Kirche in Deutschland m. E. verabschieden müssen:

  • von einer Kirche, die als Institution die Menschen flächendeckend durch Pfarreien und Seelsorgeeinheiten erreicht;
  • von einer Kirche, die in ihrer Pastoral vor allem auf die Versorgung mit gültigen Sakramenten fokussiert ist;
  • von einer Kirche, die in ihrem Dienst primär von Priestern und sekundär von hauptamtlichen Laien getragen wird;
  • von einer Kirche, die in ihrer Botschaft auf einem allgemein geteilten Vorverständnis von Welt und Leben aufbauen könnte;
  • von einer Kirche, die von Generation zu Generation sozusagen von selbst weiterwächst;
  • von einer Kirche, die auf Akzeptanz in der Gesellschaft baut;
  • von einer Kirche, die als etablierte Großinstitution in Deutschland mit Hilfe von Konkordaten und staatskirchenrechtlichen Verträgen sicher weiter bestehen wird;
  • von einer Kirche, die die einzige Institution ist, die in den Grenzsituationen des Lebens, Geburt und Tod, einen Ritus anzubieten hat und deren Dienst man in diesen Situationen selbstverständlich in Anspruch nimmt;
  • von einer Kirche, die meint, sich vor allem durch strukturelle und institutionelle Mittel und Maßnahmen erhalten zu können, und die die Konfrontation mit dem persönlichen Glauben – und damit auch Unglauben – ihrer Mitglieder eher vermeidet;
  • von einer Kirche, die ihre Einheit fast nur in vorgegebenen Formen zum Ausdruck bringt und sie nur selten als gelebte Einheit des Glaubens und Gebets erlebt;
  • von einer Kirche, in der man vielfach mehr auf die Aktivität, das Bemühen und Planen der Menschen vertraut als auf das Wirken des Heiligen Geistes und das Gebet um seine Führung.

Abschied ist sehr wichtig im menschlichen Leben. Im Abschied kann das, wovon man sich verabschiedet, noch einmal voll zum Bewusstsein kommen. Die Gestalt von Kirche, von der wir uns verabschieden müssen, hatte bei aller Einseitigkeit ihren großen Wert; z. ‌B. die flächendeckende Seelsorge zusammen mit dem selbstlosen Einsatz vieler Priester, die den Menschen vor allem in Grenzsituationen des Lebens beigestanden sind. Auch die eher einheitliche Form in den Gottesdiensten half, in der Kirche daheim zu sein. Die eher objektive Gestalt des Glaubens ersparte manchen Konflikt. Was wir hinter uns lassen müssen, war zwar defizitär, aber nicht schlecht. Es verdient unsere Trauer. Wir müssen uns davon verabschieden, damit wir offen werden für eine neue Gestalt von Kirche. Auch sie wird keine vollkommene Kirche sein, sondern ihre Einseitigkeiten und Defizite haben.

Vision einer neuen Gestalt von Kirche in Deutschland

Im Folgenden formuliere ich wiederum schlagwortartig, wie ich mir eine künftige Kirche bei uns vorstelle:

  • Sie wird eine Kirche sein, die im gelebten Glauben derer lebt, die sich für Christus entschieden haben und deshalb in ihr mitmachen und sich deshalb in ihr engagieren.
  • Sie wird Mitglieder haben, die sich verantwortlich für die Kirche fühlen, deshalb auch aktiv entsprechend ihren Gaben und Charismen das Leben der Kirche mitgestalten.
  • Sie wird vor allem dadurch neue Gläubige gewinnen, dass ihre Glieder gesprächs- und auskunftsfähig über den Glauben sind und durch ihr Zeugnis Menschen ihrer Umgebung (Kollegen, Nachbarn, Familienmitglieder usw.) auf den Glauben neugierig machen.
  • Sie wird für Menschen interessant werden, die nach dem Sinn ihres Lebens suchen, die mit den gängigen Antworten nicht zufrieden und deshalb bereit sind, etwas einzusetzen, um einen Sinn für ihr Leben zu finden.
  • Sie wird nach einem Wort von Bischof Klaus Hemmerle in „Zellen“ leben, deren Glieder jeweils ein „Modell“ christlichen Lebens miteinander leben, das von Christus „Zeugnis“ gibt. Diese Zellen werden unterschiedliche Modelle entwickeln. Kirche wird eher die Sozialgestalt eines Netzwerks als einer monolithischen Institution haben.
  • Sie wird deshalb in sich pluraler sein als bisher.
  • Sie wird eine Kirche sein, in der man den Glauben miteinander teilt, indem man darüber austauscht, wie der Glaube das eigene Leben verändert hat und prägt. Neben vorgegebenen Formen des Gebets wird das freie, ad hoc persönlich formulierte Gebet selbstverständlicher werden. Auf diese Weise antwortet sie auf ein „Zeichen der Zeit“: die Not der Vereinsamung, unter der viele Menschen leiden.
  • Sie wird sehr klein sein, weniger Aufmerksamkeit in den öffentlichen Medien haben, dafür umso eher dort, wo die Menschen vor Ort leben.

Diese Vision ist keine reine Zukunft mehr, sie hat schon in den nicht wenigen kleinen Gruppen und Initiativen begonnen. Sie sind schon „Lernorte des Glaubens“. Auch heute schon gibt es Erwachsene und Jugendliche, die neu zum Glauben finden. Sie haben viele Fragen und sind in ihrer Praxis, was Beziehungen und Sexualität angeht, oft weit weg von kirchlichen Standards. Sie suchen nach dem Sinn ihres Lebens. Sie kommen zur Kirche, weil sie ahnen, dass er in Christus zu finden ist. Die klassischen „Kirchenfragen“, z. B. Frauenpriestertum, Bischofsernennungen oder Mitsprache der Laien, interessieren sie meist wenig. Ihnen geht es um den Kern des Evangeliums.

Gefahren einer solchen Kirchengestalt und wie ihnen begegnet werden kann

Jede Kirchengestalt hat ihre Stärken und Schwächen. Wenn man sich auf eine neue Gestalt einlässt, ist es gut, sich ihre möglichen Gefahren vor Augen zu führen.

  • Intensivere Gemeinschaft im Glauben kann anziehend, aber auch abschreckend sein. Sie verlangt eine besondere Willkommenskultur.
  • Eine Kirche, die vor allem in verbindlichen Gemeinden lebt, kann zum Ghetto werden. Sie muss sich immer wieder bewusst machen, dass sie nicht für sich, sondern dafür da ist, dass die vielen Christus entdecken und in ihm das Heil finden, und sie muss kreativ Beziehung zu ihnen suchen.
  • Wenn die staatlich eingezogene Kirchensteuer, staatliche Zuschüsse und die staatlichen theologischen Fakultäten wegfallen, wird die Sorge um die finanziellen Quellen mehr Vertrauen auf Gott, einer größeren Eigenbeteiligung aller und besonderer Bemühungen bedürfen.
  • Wenn der Glaube in den Gemeinden in persönlicher Kommunikation miteinander gelebt wird, werden vermehrt Beziehungskonflikte mit entsprechenden Verletzungen auftreten. Damit sie nicht verdrängt werden oder Gemeinden zerstören, gewinnt der Versöhnungsdienst erhöhte Bedeutung.
  • Wenn der Glaube vor allem in der eigenen Gemeinde gelebt wird und die Kirche als Großinstitution in den Hintergrund tritt, wird es umso wichtiger sein, die Einheit in den Glaubensgrundfragen zu suchen und zu pflegen. Dies wird eine der Hauptaufgaben von Bischöfen und Priestern sein. Regelmäßige Großveranstaltungen auf diözesaner und nationaler Ebene werden neu wichtig, damit die Einheit im Glauben der Kirche gemeinsam gefeiert und erlebt werden kann.

Der Weg zu einer neuen Kirchengestalt

Der Reduktionsprozess, in dem die Kirche steht, ist unaufhaltsam. Es geht nicht darum, ihn zu verzögern, aber auch nicht darum, ihm nur resignativ zuzuschauen. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft sollte initiativ neue Prioritäten setzen, neue Modelle fördern und Experimente ermutigen, durch die sich eine neue Gestalt von Kirche entwickeln kann. Dafür muss sie entscheidungsfreudig werden.

Die Entscheidungen, die weiterführen, müssen gemeinsame Entscheidungen sein, und sie müssen geistliche Entscheidungen sein. Dafür braucht es eine neue Kultur in unseren Gremien und Konferenzen. Gemeinsame geistliche Entscheidungen setzen den Glauben voraus, dass Gott im Hier und Jetzt im Miteinander der Teilnehmenden wirkt. Sie leben aus deren existentiellem Gebet. Sie verlangen vor allem, dass man auf den Heiligen Geist hört, indem man aufeinander hört. Die Teilnehmenden kommen zwar mit ihren Vorstellungen in die Konferenz, aber sie müssen bereit sein, sich davon zu lösen. Es ist ein Abenteuer, denn niemand weiß im Voraus, was am Ende herauskommen wird. So kann eine Tagung zum Ereignis des Heiligen Geistes werden.

Inhaltlich wird es vor allem um einen Umbau der Grundpastoral gehen: Einführung verbindlicher katechumenaler Wege, Klärung und Formulierung der Zulassungskriterien zu verschiedenen Sakramenten, kreative Entwicklung von Modellen für den Zugang zu Glauben und Gemeinden. Dafür sind Offenheit, die nicht in Beliebigkeit abgleitet, und Flexibilität, die nicht zur Unverbindlichkeit verleitet, erforderlich. Wenn Gemeinden Lernorte des Glaubens werden sollen, dann muss von Anfang an Glauben als Beziehungsgeschehen mit Gott und untereinander erlebt werden.

Es wird Widerstände geben. Der größte wird von denen kommen, die die Angst nicht überwinden können, die eine wahrhaftige Kommunikation im Glauben macht. Deshalb wird es überall Menschen brauchen, die bei aller Entschlossenheit, voranzugehen, ihre eigene Schwachheit nicht verbergen und so ein Klima des Vertrauens eröffnen, die auch die Ängstlicheren einzuladen vermag.

Aus: Lefrank, Alex, Kirche ist paradox. Orientierung für den fälligen Wandel, © Echter Verlag: Würzburg 2016, 162–167.