Charismenorientierung braucht Erfahrung

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Das Pastoralteam als Impulsgeber und Ort des notwendigen Paradigmenwechsels

Wie funktioniert Charismenorientierung konkret? Welchen Ausgangspunkt kann sie nehmen? Welche Fallstricke sind zu beachten? Gerd Stratmann, Pfarrvikar der Pfarreiengemeinschaft Wuppertal Südhöhen, berichtet von den Erfahrungen mit deren „Zwölf Sätzen zur Charismen-Orientierung“ und plädiert für ein größeres Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes.

Welcher Impuls hat Sie bewogen, sich als Pastoralteam intensiver mit dem Stichwort Charismenorientierung zu beschäftigen?

Schon als wir vor circa acht Jahren ein Pastoralkonzept für unsere Pfarreiengemeinschaft geschrieben haben, wurde uns bewusst, dass wir in der Überzeugung leben: Alle Christenmenschen sollen ihrer persönlichen Berufung entsprechend in der Kirche mitwirken. Wir leben in der Vielfalt ebenbürtiger Christen und Christinnen und gehen den Weg mit ihnen. Als wir dann vor drei Jahren die Struktur unserer Zusammenarbeit aufs Neue ordnen mussten, haben wir uns entschlossen, der Spur der Charismenorientierung ausdrücklich zu folgen.

Inwiefern war es sinnvoll und notwendig, sich zunächst mit dem Pastoralteam Zeit zu nehmen?

Den entscheidenden Impuls zur Charismenorientierung hat das Pastoralteam gesetzt. Damit wollte es einen Paradigmenwechsel herbeiführen. Somit mussten sich seine Mitglieder auch selbst auf die Erfahrung mit der Entdeckung von Charismen einlassen und sich so auf ihrem Weg vergewissern.

Sie haben dann das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den Gremien gesucht. Wie sind Sie konkret vorgegangen? Was waren wesentliche Schritte und Erkenntnisse?

Den Gremien haben wir als Erstes unsere Überlegungen und Absichten vorgetragen und sie dabei für den Weg der Charismenorientierung gewinnen wollen. Der nächste Schritt war, dass wir in allen vier Gemeinderäten jeweils Entdeckungen mit den Gaben gesucht haben. Dabei hat uns das Buch „Ich bin dabei“ von Silke und Andreas Obenauer geholfen. Die Gremienmitglieder konnten selbst die Erfahrung von Beschenktsein und persönlicher Wertschätzung machen und ließen sich darauf ein, diesen Weg zum Grundansatz unseres gemeindlichen Lebens zu machen.

Gab oder gibt es auch Wiederstände aus der Pfarrei? Wenn ja, wie gehen Sie damit um?

Insbesondere in einer unserer vier Gemeinden hat sich Widerstand erhoben, meines Erachtens deshalb, weil die Mitglieder des dortigen Gemeinderates das Anliegen der Charismenorientierung nicht verstanden haben. Sie befürchteten, lang bewährte Arbeit, zum Beispiel Besuchsdienst, nicht mehr machen zu dürfen. Wieso der Weg der Charismenorientierung nicht als belebende, ermutigende und zukunftsweisende Haltung erkannt werden kann, ist uns rätselhaft. Wir versuchen, in weiteren Gesprächen Überzeugungsarbeit zu leisten und durch das Beispiel der anderen Gemeinden entsprechende Eindrücke und Erfahrungen zu vermitteln.

Woran spüren Menschen, dass Ihre Pfarrei heute stärker von den Charismen und nicht so sehr von den zu bewältigenden Aufgaben her denkt und handelt?

Menschen in unserer Gemeinde spüren die Orientierung an den Gaben zurzeit immer nur dann, wenn es um bestimmte Aufgabenbereiche der Pastoral geht: um deren Fortführung, wenn jemand eine Tätigkeit beendet, oder um deren Neuentwicklung. Dann fragen wir intensiv: Gibt sich jemand mit der entsprechenden Gabe ein? Ein nächster Schritt muss sein, immer mehr Gemeindemitgliedern bei der Entdeckung ihrer Gaben zu helfen und sie zum Mittun zu ermutigen.

Worin sehen Sie auf ihrem Weg dieses Paradigmenwechsels derzeit die größte Herausforderung?

Die größte Herausforderung an die Gemeinden und deren Verantwortliche und auch an uns ist es, Vertrauen aufzubringen: Vertrauen, dass Gott wirklich in den Menschen und ihren Gaben wirkt und seine Kirche beleben will und wird.

Angenommen, Ihre Pfarrei geht in den kommenden fünf Jahren den Weg hin zu einer stärkeren Charismenorientierung konsequent weiter. Was wird dann anders sein als heute?

In fünf Jahren konsequenter Charismenorientierung werden die Gemeinden geschwisterlicher sein. Sie werden von Impulsen belebt, an die heute noch niemand denkt. Und sie werden in Gelassenheit Tätigkeiten aufgegeben haben, für die es keine „Begabten“ gibt.

Was hat sich in diesem Prozess als leicht und einfach herausgestellt, was war schwieriger als erwartet, und was haben Sie vielleicht auch unterschätzt?

Relativ leicht war es, den gesamten Prozess anzustoßen, Menschen dafür zu interessieren und mit ihnen nach ihren Gaben zu suchen. Schwieriger als erwartet war es in der genannten einen Gemeinde und bei manchen Einzelnen überall, dass sie die Charismenorientierung für einen Spleen halten und sich nicht erfassen lassen von einer inneren Bewegung und der neuen Entdeckung des Geistwirkens.

Was können Sie einer Pfarrei empfehlen, die heute für sich sagt: Wir machen uns auf den Weg hin zu einer stärkeren Charismenorientierung?

Ich sehe zu den Schritten, die wir gegangen sind, keine Alternative: das Pastoralteam in seiner geistlichen Haltung zu vergewissern, die Gremien und ihre Mitglieder zu gewinnen und dann viele Begegnungs- und Gesprächsräume in der Gemeinde dafür zu nutzen, Menschen in Kontakt mit dem Anliegen zu bringen. Wir suchen dazu zum Beispiel die bestehenden Gruppen der Gemeinde auf; wir nutzen inhaltlich gestaltete Wochenenden, Vortragsabende, Gottesdienste, das Pfarrfest, eine Pfarrversammlung und viele andere Gelegenheiten, um das Bewusstsein der Menschen neu zu bilden, bis hin zu dem Angebot, mit anderen Gemeindemitgliedern selbst einen Charismentest zu machen.

Sie sagen: Es geht letztlich um eine geistliche Haltung. Was meinen Sie damit?

Die notwendige geistliche Haltung der Charismenorientierung ist die Überzeugung, dass wirklich Gottes Geist in jedem Menschen schöpferisch zur Wirkung kommt. In dieser Überzeugung finden Menschen zu dem Vertrauen, dass Gott auf diese Weise seine Kirche beleben will. In diesem Vertrauen braucht niemandem bange zu sein, dass es der Kirche an etwas fehlen würde: Gott hat uns ja überreich beschenkt! Ich brauche nichts zu erzwingen. Ich muss das Wirken des Geistes nur erspüren und die Menschen in ihren Gaben fördern und ermutigen.

Sie haben gesagt: In letzter Konsequenz wird Kirche dann egalitär. Es verändert sich die Sicht auf Kirche. Was heißt das für Sie als Priester, für Hauptberufliche, für die Beziehung von Christen untereinander?

„Kirche wird egalitär“, heißt: Eine Kirche, die der Geistbegabung ihrer Mitglieder folgt, wird wirklich geschwisterlich, wird wirklich „Volk Gottes“. In ihm wird auch das Charisma der Leitung notwendig gebraucht, aber auf die Weise, dass alle in ein ebenbürtiges Miteinander finden. Das Amt wird dann frei von aller klerikalen Selbstüberschätzung. Es wird vom „Herrn über den Glauben“ zum „Diener der Freude“, wie es in der Tradition heißt. Es fungiert nicht mehr abgehoben und autoritär von oben nach unten, sondern dient dem Zusammenhalt in der Vielfalt und freut sich daran. Ich mache jetzt schon die Erfahrung: Wo Kirche so gelebt wird, ist sie lebendig und attraktiv für unsere Zeitgenossen und ‑genossinnen.

Das Interview führte Andreas Fritsch.

Aus: Unsere Seelsorge 9/2015.