Pastoraltheologische Anregungen

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Wie lässt sich mit der Erfahrung von Fremdheit in geistlicher Weise umgehen? Ausgehend von seinen Überlegungen einer milieusensiblen Taufpastoral denkt Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, theologischer Referent im EKD-Zentrum Mission in der Region, im protestantischen Kontext in seinen pastoraltheologischen Anregungen grundsätzlich weiter über eine milieusensible Verkündigung und Pastoral nach.

Eines der wichtigsten Ergebnisse der vorliegenden Erhebungen, so bruchstückhaft sie noch sind, liegt darin, dass durch die milieutheoretische Perspektive auf das pastorale Tun aufgedeckt und sichtbar wird, dass die Pfarrerin selbst als Person in ihren subjektiven Prägungen, mit ihren individuellen ästhetischen Vorlieben und ihrer eigenen kulturellen Prägung nicht über den zu begleitenden Menschen steht, sondern „Teil des Spiels“ ist.

Es sind in mehrfacher Hinsicht Einstellungen, Prägungen und Empfindungen der taufenden Person, die Menschen anderer Milieus den Zugang zu Kirche erleichtern oder erschweren:

(1)    Erfahrung von Fremdheit als Entfremdung von der Selbstverständlichkeit der eigenen Milieuprägung

Milieusensibilisierung führt notwendigerweise zum Gefühl von Fremdheit. Dieses ist aber – immer – wechselseitig. Der Pfarrer empfindet eine Lebenswelt als fremdartig, er fühlt sich womöglich unwohl, provoziert. Exakt diese Empfindungen herrschen aber auch auf der anderen Seite vor, und sie haben womöglich exkludierende, mindestens distanzierende Wirkung.

Wichtig ist zunächst die Wahrnehmung von Fremdheit, weil nur sie ermöglicht, die entsprechende Empfindung – auch selbstkritisch und selbstreflexiv – zu bearbeiten. Wichtig ist weiter die Einsicht: Wenn Fremdheit wechselseitig ist, dann ist sie auch beidseitig begründet und veranlasst. Dann ist nicht einfach meine Prägung und Einstellung die „normale“; selbst dann, wenn ich hauptamtlicher Akteur in dieser Kirche bin, unterliege auch ich bestimmten Milieuprägungen, die mich als solche anderen zu einer fremden Größe werden lassen. Auch der Pfarrer hat einen ästhetischen Standpunkt, der sich nicht einfach von selbst versteht. Das, was sich für mich von selbst versteht, versteht sich nicht von selbst. Es ist nicht eo ipso das Normale. Wo ich diese Haltung nicht verlasse, versuche ich in ungeistlicher Weise zu dominieren.

(2)    Den Urteilsstandpunkt verlassen

Im Kontakt mit Menschen aus anderen Lebenswelten spielen aber nicht nur deren Einstellungen, Verhaltens- und Lebensweisen eine Rolle, sondern unsere eigenen Milieuprägungen. Auch evangelische Geistliche müssen damit rechnen, dass sie das Evangelium nicht in „Reinkultur“ verkörpern, sondern selber Prägungen mitbringen. Diese beeinflussen nicht nur die Art und Weise, wie sie das Evangelium kommunizieren, sondern schon den Blick, mit dem sie ihre Mitmenschen wahrnehmen. Auch Pfarrerinnen und Pfarrer stehen vor „Ekelschranken“1, und je mehr sie sich diese vergegenwärtigen und sie bewusst werden lassen, umso eher haben sie die Chance, mit ihnen konstruktiv umzugehen. Es sind sehr oft nicht fundierte theologische Positionen, sondern Bauchgefühle, die uns in unserem Empfinden und Verhalten leiten. Ich nenne einige aus dem Leben gegriffene Beispiele:

  • Wie kann man nur so viel Geld für sich ausgeben, für so ein Haus, eine solche Einrichtung, mehrere Autos? Das ist doch unanständig, unverantwortlich und – unchristlich.
  • Wie kann man nur so exhibitionistisch sein und zeigen, was man hat: materiell und körperlich! Wie kann man sich nur so zur Schau stellen! Zählen nicht für einen Christen die inneren Werte?
  • Ist diese Körperbetonung nicht ekelhaft: ein Ausschnitt bis zum Bauchnabel, ist das nicht ordinär? Piercings, naja, aber das Muscle-Shirt – da fühle ich mich unangenehm berührt; das kommt mir zu nah. Riecht das nicht? Ist es nicht kultiviert, nicht so viel zu zeigen?
  • Ich könnte hier nicht leben. Ist hier ein menschenwürdiges Leben überhaupt möglich? Diese Unordnung, diese am Übergewicht ablesbare undisziplinierte Lebenshaltung? Wie kann ich diesen Menschen bloß helfen, damit sie richtig leben können?
  • Wie schlimm muss das sein, wenn man nicht liest, ja offenbar kaum lesen kann? Ist das nicht primitiv? Muss man da nicht helfen?
  • Unmöglich diese Markenklamotten, diese Turnschuhe, dieser Fernseher mit dem Riesenbildschirm! Für nichts ist Geld da, aber dafür schon. Ist dieser Umgang mit Geld nicht unverantwortlich?
  • Darf man sich wirklich so pragmatisch orientieren und Institutionen und Menschen so stark unter der Fragestellung sehen, was sie einem bringen? Geht es nicht auch um Bindung und Altruismus?

Menschen spüren es vielfach, wenn wir ihnen mit solchen oder anderen Bewertungen begegnen. Aus den „Ekelschranken“ zwischen unserem und dem fremden Milieu resultieren Urteile, konkret: Verurteilungen. Wohl dem, der sie realisiert und sie dann bearbeiten, wenigstens ein Stück weit auffangen kann. Ganz schlecht ist es, wenn diese Urteile, auch der dahinter liegende Urteilsstandpunkt, nicht realisiert werden und sich dann womöglich unkontrolliert – auch indirekt – Ausdruck verschaffen können. Es gibt viele Weisen, die Nase zu rümpfen. Nicht nur die katholische Kirche, auch die protestantische hat sich in der Aufnahme der Reflexionen des deutschen Idealismus vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als sittliche Anstalt und moralische Institution verstanden. Das wirkt bis heute nach, mitunter auch distanzierend.

Wichtig für das heutige Selbstverständnis von Kirche ist, dass ihre frühere, über Jahrhunderte selbstverständliche ethische und moralische Leitfunktion zerbrochen ist und von vielen Milieus, teilweise programmatisch, nicht mehr anerkannt wird. Notwendig ist demgegenüber eine Haltung,

  • die zu verstehen sucht. Wir wollen und werden dann die Lebensweisen, denen wir begegnen, aus der Logik der jeweiligen Lebenswelt heraus zu rekonstruieren suchen; es reicht dann aber nicht mehr, aus einer gesicherten und gesellschaftskritischen „Oberstudienratsperspektive“ heraus den Kauf von Markenartikeln und Statussymbolen zu verurteilen: „Einen solchen Großbildfernseher können die sich doch eigentlich gar nicht leisten. Das Geld hätte man doch besser für Nachhilfestunden ausgegeben.“ Die uns widersinnig erscheinende Lebenswelt wird dann etwa da plausibel werden, wo wir sie unter der Perspektive der verweigerten Anerkennung, der Suche nach Akzeptanz und (bürgerlicher) Identität ansehen;
  • die umgekehrt einsieht, wie sehr auch eigene Urteile sich einer bestimmten, alles andere als selbstverständlichen Milieuprägung verdanken. Wie unangenehm sind aber Menschen, die ihre Identität daraus beziehen, alles besser zu wissen als der ungebildete Rest der Welt, dem vorgeschrieben werden muss, wie er sich korrekt zu verhalten hat.

(3)    Konsequenzen für einen anders zusammengesetzten und anders organisierten Pfarrerstand

Die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern muss in einem umfangreichen Maß Berührung mit Milieus in Theorie und Praxis ermöglichen, fördern und fordern, damit Kirche nicht nur Kirche für die Kirchennahen ist. Kirche und Kirchenleitung müssen sich um eine Rekrutierung von Menschen für den Pfarrerberuf bemühen, die nicht bloß aus ihren Stammmilieus B23 (BÜM), v.a. aber aus B1 (LIB) bzw. B12 (SÖK) stammen.2

Vielleicht ist es aber auch schon eine Hilfe, wenn es auf regionaler, etwa Distriktsebene zu Delegationen kommt und Teams gebildet werden, in denen man sich gegenseitig aufgabenorientiert entlastet. Da gibt es dann

  • den jungen Kollegen, der endlich seine Begeisterung für eine bestimmte Szene-Kultur zeigen und im Kontakt pflegen darf,
  • den älteren Kollegen, der – ohne das an die große Glocke zu hängen – ein Faible für Volksmusik hat und mit Menschen aus der Vereinskultur sofort den richtigen Ton findet,
  • die Kollegin Mitte 40, mit Strickjacke und Wickelrock, die sich im alternativen Milieu zurechtfindet,
  • die junge Kollegin, mit rot gefärbten kurzen Haaren und gepierct, die im experimentellen oder auch hedonistischen Milieu auf ihresgleichen trifft und so wahrgenommen wird,
  • die äußerst gepflegte Erscheinung der Frau Dekanin, die sich die Ehre gibt, und sich im etablierten oder konservativen Hochmilieu ohne Komplexe zu bewegen weiß.

(4)    Bearbeitung von Abwehrhaltungen

Der vielfach aus einem eher postmateriellen Nach-68er-Milieu stammende Geistliche wird sowohl irritiert wirken, wenn er auf Menschen stößt, die seine gehobene Ausdrucks- und Verständigungsweise nicht verstehen oder goutieren, vielmehr körpersprachlich kommunizieren, gar nicht daran denken, den Fernseher beim Taufgespräch leiser zu stellen; die sehr offen zeigen können, dass und wenn ihnen etwas nicht passt. Er wird aber auch irritiert sein, wenn er auf Menschen trifft, die ihm an Bildung, Kompetenz, Selbstbewusstsein und Dominanzverhalten mindestens ebenbürtig sind, wenn nicht gar überlegen zu sein scheinen und ihn ihre aus ihrer Sicht gegebene Superiorität auch spüren lassen.

Die Abwehr heterodoxer Einstellungen und Inhalte ist wichtig, darf aber nicht im Mittelpunkt stehen. Die uns begegnende „Tauftheologie“ ist nicht mit der Elle orthodoxer Überzeugungen zu messen. Die begegnenden Erwartungen sind nicht an Kriterien bürgerlicher Formatierung von Kirche zu beurteilen. Menschen sind mit Gott, Gott ist mit den Menschen – auch bei dieser Taufhandlung – unterwegs. Und unsere Aufgabe ist es, ihnen soweit wie möglich entgegenzukommen. Nicht die Sorge um theologische Korrektheit, sondern die Frage, wie wir Anliegen, die dem anders denkenden und empfindenden Menschen wichtig geworden sind, aufnehmen können, stehen im Zentrum unserer Begegnung mit ihm. Das schließt das theologische Gespräch ein, sofern es möglich sein wird. Es kann Ausdruck eines – provokativ formuliert – theologischen und kirchenrechtlichen Egoismus sein, wenn wir uns gegenüber ungewöhnlichen Wünschen und Erwartungen auf die Lehre der Kirche zurückziehen. Dann haben wir es „richtig“ gemacht. Aber sind wir noch bei den Menschen?

Der Verdacht legt nahe, dass soziale, psychische und ästhetische Differenzen vom Hauptamtlichen als theologische prädiziert und auf diese Weise bewältigt werden sollen. Das sieht dann exemplarisch so aus:

  • Der Wohlhabende kann dann Abwehrreaktionen auslösen, die die eigenen Unterlegenheitsgefühlte kompensieren sollen: Darf man so viel Geld für sich ausgeben? Ist solcher Reichtum nicht schon Sünde?
  • Die experimentell und kreativ Eingestellte provoziert den professionellen Liturg mit dem Vorwurf bloß traditioneller, langweiliger und uninteressanter Routine und löst als Reflex den Rückzug auf die Grundsätze, Regeln und Ordnungen der Kirche aus: „Das können wir nicht anders machen, weil es den Ordnungen und Überzeugungen unserer Kirche nicht entspricht!“
  • Durch die Forderung nach alternativen Inhalten und neuen Wegen in Form und Gestalt des Gottesdienstes, speziell des gottesdienstlichen Taufhandelns fühlen sich die für die Gemeinde und den Gottesdienst theologisch Verantwortlichen potenziell in ihrer evangelischen und theologischen Identität bedroht. Fragen der äußeren Gestaltung werden dann schnell vom Tisch gewischt mit dem Argument „Das geht nicht, weil es nicht evangelisch ist; weil es biblisch-theologisch nicht verantwortbar ist.“
  • Oder die hoch individualisierten Wünsche für die Gestaltung des Taufgottesdienstes lösen ganz schlicht Abwehrreaktionen beim überforderten Profi aus, der mit der Fülle seiner Aufgaben am besten dann klarkommt, wenn er Vollzüge möglichst standardisieren kann. Auch in einer solchen Situation liegt es nahe, sich auf kirchliche, theologische oder rechtliche Begründungsmuster zurückzuziehen.

Solche und andere theologische Legitimationsversuche eines im Grunde ästhetischen Abwehrverhaltens lassen im Ergebnis Kirche als eine unflexible, traditionsfixierte, geistig unbewegliche Institution erscheinen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Durch den Hinweis auf die Milieugebundenheit und Milieuspezifität von Reaktionen sind die diversen, eben formulierten Anliegen nicht schon in der Sache erledigt. Es wird aber deutlich,

  • dass sie sich selber einem Standpunkt, einer Haltung, einer Mentalität verdanken und sich eben nicht von selbst verstehen,
  • dass um die Allgemeingültigkeit und exklusive Geltung einer – etwa postmateriellen – Haltung wohl doch noch erst einmal anders gerungen werden müsste, zumal dann, wenn klar ist, dass eine Haltung dann andere ausschließt, wenn sie sich absolut setzt,
  • dass wir also in unserer Kirche verschiedene Interessen und Gesichtspunkte evtl. ganz neu austarieren müssen: traditionelle Orientierung vs. Öffnung für eine pragmatische Haltung, theologisch-korrekte Orientierung vs. missionarischen Willen zur Anknüpfung etc.

(5)    Die missionstheologische Aufgabe der Kontextualisierung des Evangeliums in unterschiedlichen Milieus

Das alles bedeutet nicht, dass Kirche, Glaube oder gar das Evangelium beliebig wären; dass es gleichgültig wäre, was wir weitergeben; dass wir als Hauptamtliche reduziert würden zu Erfüllungsgehilfen der oft genug abstrus wirkenden Wünsche de facto kirchenferner Kirchenmitglieder. Das bedeutet nicht, dass wir deren oft tatsächlich heterodoxe Auffassungen und Erwartungen zu sanktifizieren hätten. Es bedeutet auch nicht, dass wir uns darüber täuschen müssten, wie wenig uns in diesen Kontakten an Verbundenheit mit dem Evangelium begegnet.

Es bedeutet aber sehr wohl, dass wir uns nicht hinter die Mauern einer theologischen und liturgischen Korrektheit zurückziehen, auch wenn wir das könn(t)en. Es bedeutet, dass wir realisieren, in welchem Umfang wir hier vor einer im Letzten missionstheologischen Herausforderung stehen und uns entsprechend auf Versuche der Kontextualisierung des Evangeliums einlassen. Mission beginnt heute nicht in Brasilien3, sondern mitten in Deutschland, auch nicht nur im atheistisch geprägten Osten, sondern mitten in meiner Parochie. Diese Kontextualisierung ist – wie wir gesehen haben – der Kirche für bestimmte Bereiche herausragend gut gelungen, so gut, dass sie die entsprechenden eher konservativ-traditional oder familial orientierten Lebenswelten mit christlicher Kultur oder Lebensweise zu identifizieren neigt. Muss man gebildet sein, in bürgerlichen Anstellungsverhältnissen leben, um Kirchenchrist zu sein? Warum haben es Ungebildete und Hochgebildete, Prekäre und Etablierte, Experimentalisten und kritische Intellektuelle so schwer, in der Kirche zu landen, Kirche als ihre Kirche zu begreifen? Notwendig sind weitergehende, noch andere Versuche der Kontextualisierung in andere Milieus hinein; aber die können sehr mühsam sein. Sie können bedeuten, dass wir uns „dehnen und strecken“, um Anknüpfungspunkte zu finden, an Berührungspunkte zu gelangen oder auch gemeinsam Wege mit Menschen zu gehen, die erst am Ende zum Ergebnis einer Annäherung an Glaube und Gemeinde führen, die wir für wünschenswert und richtig halten. Es kann bedeuten, dass wir in solchen Vollzügen den Eindruck gewinnen, unsere theologische oder kirchliche Identität aufzuweichen, wenn wir beginnen das, was Taufe, Kirche, Glaube, Christus ist, unabhängig von den eingefahrenen und bewährten Gleisen auch einmal anders zu denken und zu deklinieren. Wir dürfen uns hierbei immer daran erinnern, dass auch unser Verständnis von Taufe, Kirche, Glaube, Christus ein kulturell geprägtes ist, das sich eben nicht von selbst versteht.

Einen Weg mit dem Gegenüber können wir dabei nur gehen, wenn wir den Menschen, die uns begegnen, Gegenüber bleiben; wenn wir also nicht distanzlos werden und auf das verzichten, was unseres Erachtens Kirche, Glaube, Evangelium bedeutet. Es gilt vielmehr, diese theologische und speziell ekklesiologische Identität in den Prozess der Begegnung mit hineinzunehmen und sich dabei aber ggf. auch selber auf eine Umformulierung, eine noch einmal andere Perspektive, eine evtl. neue Erschließung von Gott und Glaube einzulassen.

Wenn wir uns auf diese Perspektive einlassen, dann kann das kirchliche Taufhandeln, gerade auch in einer gestreckten Form, dann können auch andere kirchliche Handlungen als ein Stück Lebensbegleitung eine milieuübergreifende, missionarische Bedeutung bekommen.

(6)    Zusammenfassung: Das kirchliche Taufhandeln als Instrument milieuüberwindenden missionarischen Handelns

Pfarrerinnen und Pfarrer der evangelischen Kirche, die milieusensibel agieren, fragen nach Chancen, das Evangelium auch in anderen als den prämodernen und bürgerlichen Ansätzen zu kommunizieren.

Der Ansatz milieuübergreifenden kirchlichen Handelns bedeutet, sich auf das jeweilige Milieu, seine Menschen und ihre Vorstellungen einzulassen und seine Mitglieder soweit wie möglich in der Kirche (nicht unbedingt in der Ortsgemeinde!4) zu beheimaten, nach Andockpunkten zu suchen und Kontaktflächen zu schaffen.

Gerade dann, wenn zu der Mehrzahl der Kirchenmitglieder keine substantiellen kirchlichen Kontaktflächen bestehen; gerade dann, wenn diese am kirchlichen Leben vor Ort kaum partizipieren, bieten Kasualien wie Taufe, Trauung und Bestattungen ausgezeichnete Möglichkeiten, diese Milieugrenzen wenigstens punktuell zu überschreiten und so Chancen für weitergehende Begegnungen zu schaffen.

Aus: Hempelmann, Heinzpeter/Schließer, Benjamin/Schubert, Corinna (Hg.), Handbuch Taufe. Impulse für eine milieusensible Taufpraxis, Neukirchen-Vluyn 2013, 55–61.


  1. Dieser aus der Ethnologie entlehnte Begriff spielt in der Lebensweltforschung eine zentrale Rolle. Er beschreibt drastisch die Distinktionsgrenzen zwischen den Lebenswelten, die eben nicht nur kognitiver, sondern auch mentaler, emotionaler und intuitiver Natur sind.
  2. Vgl. den Hinweis von Julia Holz, dass ca. 90 % der gegenwärtigen Pfarrer aus dem Milieu B12 stammen („Milieuverengung und Mission. Warum die Kirche viele Menschen nicht erreicht“, in: Amt für missionarische Dienste in der Evangelischen Kirche von Westfalen [Hg.], Unerreichte erreichen. Bausteine für eine Gemeinde von morgen, Dortmund 2008, 8–14). Dieses Urteil ist aber bereits auch wieder fünf Jahre alt. Meiner Wahrnehmung nach spreizen sich die Milieus, aus denen sich die nachrückende Pfarrergeneration rekrutiert, mindestens etwas.
  3. Vgl. Johannes Zimmermann, „‚Wir sind doch nicht in Brasilien‘. Praktisch-theologische Überlegungen zum Thema Mission“, Theologische Beiträge 40 (2009), 79–95.
  4. Wer das Anliegen einer milieusensiblen und milieuübergreifenden Kirche weiterdenkt, stößt hier konsequent auf die noch weitergehende Frage nach kirchlichen Formaten, die den einzelnen Lebenswelten buchstäblich entgegenkommen (vgl. zur Sache: Heinzpeter Hempelmann, Michael Herbst und Markus Weimer [Hg.], Gemeinde 2.0: Frische Formen für die Kirche von heute [BEG-Praxis], Neukirchen-Vluyn 2011).