Vielfalt der Charismen und kirchliche Gemeinschaft in der Liturgie

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Welche Rolle spielt die Liturgie bei dem Vorhaben, gemeinsam Kirche zu sein? Für Dr. Benedikt Kranemann, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt, rückt das Bischofwort die „tätige Teilnahme“ neu ins Zentrum, so dass sie auch außerhalb der Liturgie zu einem Paradigma einer Kirche im Umbau wird. Neben der sonntäglichen Eucharistie hebt er die Bedeutung anderer kirchlicher Ausdrucksformen hervor.

1.   Kirchesein aus der Liturgie

Die katholische Kirche in Deutschland steckt mitten im Umbruch, für den symptomatisch die Veränderungen von Strukturen stehen. In vielen Bereichen des kirchlichen Lebens ist das für Katholikinnen und Katholiken, Haupt- wie Ehrenamtliche/r, längst eine erfahrbare Realität im Alltag. Soll dieser Prozess für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft zu einer Intensivierung von Glauben, kirchlichem Leben und christlichem Engagement führen, bedarf es einer überzeugenden Vorstellung davon, was Kirchesein heute meint, wie sich die Kirche selbst verstehen und wie sie der Gesellschaft gegenübertreten möchte. Im Mittelpunkt muss die Glaubensüberzeugung von der Gegenwart Gottes im Hier und Heute stehen. Die Kirche muss aus dem Bewusstsein leben, dass sie zur Einheit mit Gott in der Nachfolge Jesu Christi berufen ist und sich als Glaubensgemeinschaft vom Geist Gottes motivieren und durchdringen lassen soll. Die lebensnahe Weitergabe dieser Glaubensbotschaft von der Gegenwart Gottes, die Menschen heute ansprechen und für ihr Leben als eine Realität Hoffnung und Orientierung geben soll, muss wesentliches Moment gegenwärtigen kirchlichen Selbstverständnisses sein. Es handelt sich gleichsam um den Dreh- und Angelpunkt kirchlicher Existenz. Diese Überzeugung kann in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen der Kirche sichtbar werden, doch gerade die Liturgie muss davon in besonderer Weise geprägt sein. In ihrer Feier muss deutlich werden, aus welchen Quellen die Kirche lebt und auf welchem Fundament sie steht. Gerade in Ritualen mit ihrer Performance (Ausführung) werden Werte und Wahrheiten dargestellt, Botschaften wie die biblische Botschaft in spezifischer Weise kommuniziert und in wirkmächtige Handlungen umgesetzt. Das bischöfliche Dokument „Gemeinsam Kirche sein“ spricht mit 1 Kor 12–14 und 2 Kor 9,8.11 davon, dass Gott der Kirche die Gaben des Geistes „nicht fehlen lässt“ (GKS 19). Das deutlich pneumatologische Element fällt in dieser Ekklesiologie auf, die nicht ein juridisch-statisches Kirchenbild starkmacht, sondern auf Dynamik und Bewegung hinweist, wie sie nicht zuletzt die Liturgie in der Pfingstsequenz und anderen Liedern mit dem Wirken des Geistes Gottes verbindet. Das ist für die Kirche sicherlich kein bequemer, aber ein sehr perspektivenreicher Weg in die nähere Zukunft.

2.   Charisma und Teilnahme

Wenn heute gemeinsam Kirche gelebt werden soll und nach einer Form von Kirchesein in der Gegenwart gefragt wird, kann dies nur in Zeitgenossenschaft gelingen. Die Gläubigen dürfen ihre eigene Identität im Glauben nicht verleugnen, sondern müssen sie in den Prozess der Veränderung von Kirche einbringen können. Hier vollzieht der Text einen Paradigmenwechsel, der theologisch untermauert wird: Man geht mit Blick auf das Engagement in der Kirche nicht mehr von einem kirchlichen Bedarfsplan aus, der ehrenamtlich abgedeckt werden muss und in den die Ehrenamtlichen „einsortiert“ werden, sondern fragt nach den vorhandenen Ressourcen (GKS 19), also dem, was Menschen mitbringen, nach „persönlichen Gaben“, nach Charismen. Kirche wird mit Nachdruck von den Menschen, ihren Begabungen und ihrem Glaubensleben her gedacht. Mit Blick auf die Liturgiekonstitution kann man schlussfolgern, dass die Participatio actuosa (tätige Teilnahme), die ja ein grundlegendes Axiom im ersten Konzilsdokument ist, hier – über die Liturgie hinaus – zum Baustein für eine Kirche im Umbau wird. Hier wie dort ist klar, dass es nicht um ein beliebiges Element für das kirchliche Leben, sondern ein Konstitutivum geht. Das Prozesshafte, das bleibend bereits der Liturgiereform innewohnte, begegnet im Wort der Bischöfe im Zusammenhang des Verständnisses von Kirche. Wer auf Charismen und Partizipation, wer damit – theologisch gesprochen – auf das Wirken des Geistes Gottes setzt, lässt sich auf einen offenen und letztlich nicht abschließbaren Prozess ein. Kirche zu sein, braucht Dynamik. Das Verständnis von Kirche verändert sich letztlich auf eine im Aufbruch befindliche pfingstliche Kirche hin. So können „ganz neue Ausdrucksgestalten kirchlichen Lebens entstehen. Weil sie aus den Gaben des Heiligen Geistes kommen, der in den Gläubigen wirkt, sind auch vielfach unvorhersehbare Überraschungen durch sie möglich“ (GKS 19). Es wird spannend sein, zu beobachten, wie weit dieser Mut zu Überraschungen bei allen Beteiligten reichen wird!

3.   Charisma des Einzelnen – Kirche als Gemeinschaft

So gesehen ist das Bild der katholischen Kirche und ihrer Pastoral, das dieses Kapitel 2 entwirft, verlockend, zudem sehr zeitgemäß: „Die Getauften und ihre Charismen sind der eigentliche Reichtum der Kirche. Die Charismen zu entdecken, sie zu fördern und ihren positiven Entfaltungs- und Sendungsraum in der Kirche und in der säkularen Welt zu erkennen und zu gestalten, ist die zentrale Aufgabe dieser Pastoral“ (GKS 19). Die Kirche, die hier vor Augen steht und u. a. durch Rückgriff auf das Neue Testament Konturen gewinnt, baut wesentlich auf das Charisma des Einzelnen. Damit taucht aber ein Problem auf: Wo bleibt die Kirche als Gemeinschaft, wenn man so stark auf die Einzelnen schaut? Droht dann nicht ein reines Nebeneinander von Individuen? Deren Begeisterung für den Glauben wird beschrieben als „subjektiver Ausdruck des Menschen“, der nicht einfach aus sich handelt, sondern „der das Evangelium gehört und persönlich angenommen hat und darauf antworten will“ (GKS 20). Es wird zudem deutlich, dass man solch ein Charisma nicht macht, sondern es sich als Gabe des Geistes schenken lassen muss (vgl. GKS 21). Insofern kommt man schon aus theologischen Gründen am Einzelnen und seinen Charismen nicht vorbei. Doch wo bildet sich Kirche, und zwar so, dass sich in der Glaubensgemeinschaft die Charismen entfalten können? Das Dokument gibt die Antwort unter der sprechenden Überschrift „Die sonntägliche Eucharistie führt die Pfarrei zusammen“ (GKS 23). Einmal mehr wird deutlich: Liturgie und Ekklesiologie gehören eng zusammen. Was spielt die Eucharistie und die Liturgie insgesamt für das Modell von Kirche, das hier entfaltet wird, für eine Rolle?

4.   Eucharistie und Einheit der Kirche

Die Vielfalt der geistgeschenkten Charismen und ihre Akzeptanz für eine lebendige Kirche provozieren die Frage, wie in diesem Plural der Individuen Gemeinschaft der Kirche entstehen kann. Die Antwort lautet: durch die Eucharistie. Das mag manchen zu eng wirken, ist aber der Theologie- und Liturgiegeschichte vertraut und wird von vielen Kirchen in der Ökumene geteilt. Ein verbindendes Moment ist das Wirken des Geistes, der nicht nur dem Einzelnen das Charisma, sondern der Kirche die Einheit schenkt. Dafür greift das Dokument auf die Leib-Christi-Theologie und das paulinische Bild vom Leib und den Gliedern zurück (1 Kor 12,12–31). Die Volk-Gottes-Theologie als das andere große „Modell“ bleibt hier leider unerwähnt, obwohl sie sich mit der Theologie der Charismen durchaus zusammendenken ließe. Der Leib Christi ist für sein Leibsein auf die Eucharistie als gründendes Geschehen verwiesen, denn die Kirche geht aus der Feier von Tod und Auferstehung Jesu Christi je neu hervor. Liturgietheologisch würde man hier den Begriff des Paschamysteriums verwenden, der natürlich auf Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi hinweist, aber dann noch mehr einschließt: die Geschichte Gottes mit den Menschen von der Schöpfung bis zur endzeitlichen Vollendung. Die allem, auch der Existenz der Kirche vorgängige Schöpfung Gottes, die mit Israel gemeinsame Überzeugung, Volk Gottes zu sein, das sich immer wieder neue Ausrichten am Gott gegebenen Wort der Propheten u. v. m. kommt in diesem Begriff zum Ausdruck, ebenso die endzeitliche Hoffnung. Wer mit anderen gemeinsam Kirche sein will, kann dieses nur auf dem Boden biblisch bezeugter Gottesgeschichte und aus dem Leben mit dieser Geschichte verwirklichen. Das wiederum verdichtet sich in der Eucharistiefeier und in der Begegnung mit Christus im Wort, unter den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein und in der gemeindlichen Versammlung. Das Moment der Gemeinschaft in Christus erlebt die Kirche deshalb immer wieder neu, wenn sie zur Eucharistie zusammenkommt.

5.   Gemeinschaft aus der Wortverkündigung

Was sind wesentliche Elemente dieses Verständnisses von Eucharistie? Umfassender müsste man sagen: In der Messfeier aus Wortgottesdienst und Eucharistie wird par excellence kirchliche Versammlung realisiert. Gemeinsam hören die versammelten Gläubigen Texte aus beiden Teilen der einen Bibel, bekennen sie als Wort Gottes, das die versammelte Kirche verpflichtet, und antworten im Gebet darauf. Wenn am Sonntag die vielen Charismen in der Liturgie zusammengeführt werden, ist das Wortgeschehen der Liturgie konstitutiv. Es ist dieses Wort, das die Kirche als Gemeinschaft zusammenführt, die Richtung weist und immer neu zum Korrektiv der Glaubensgemeinschaft wie des Einzelnen werden muss, um nicht aus dem Blick zu verlieren, was Kirche im Kern ausmacht. Dafür müssen nicht nur die Texte, sondern ebenso die Riten, die zum Wortgottesdienst der Messfeier gehören, aus sich sprechen können. Ihre performative, die Situation wie die Menschen wandelnde Kraft muss sichtbar werden. Dazu bedarf es auch, aber nicht nur im Wortgottesdienst der Messfeier des Mutes zum Ritual, in dem beispielsweise Begegnung mit dem Wort Gottes geschehen kann. Der häufig mangelnde Mut zum Ritus, welchem man augenscheinlich außerhalb der Kirche mehr zutraut als innerhalb, kann das Kirchewerden in der Liturgie konterkarieren und gefährden.

Die Überlegungen zu Liturgie und Charisma im Dokument konzentrieren sich stark auf den zweiten Teil der Messfeier, die Eucharistie. Die Wortverkündigung mit ihrem kirchenbildenden Potenzial müsste stärker gewichtet werden. Vom Charakter der Wortverkündigung, die auf eine hörende und antwortende Gemeinde hinzielt, und von deren Gewichtung im Konzil her gesehen ist das bedauerlich. Der Hinweis auf das Gotteslob in Gemeinden in der Diaspora, die am Sonntag keine Eucharistie feiern können und dann zu irgendeiner Form von Wort-Gottesdienst zusammenkommen, wirkt angehängt. Man nimmt der Messfeier nichts und vergibt sich theologisch nichts, wenn man für den Fall, dass sie sonntäglich nicht möglich ist, um des Zusammenhalts von Kirche willen die Wort-Gottes-Feier nennt. Die Liturgiekonstitution des Konzils und ihre Theologie des Wortes ermutigen jedenfalls zu entsprechenden Feiern.

6.   Versammlung zum Gedächtnismahl Jesu Christi

Dass Kirche in einem umfassenden Sinne versammelt ist, der Einzelne hier integriert wird, dass alle am Leib Christi partizipieren, wird in der Eucharistie auf unterschiedliche Weise realisiert. Die Interzessionen (Bitten) im Hochgebet sagen nichts anderes, als dass die Gemeinde vor Ort sich versammelt in Einheit mit dem Bischof von Rom und der Ortskirche. Sie drücken zugleich aus, dass die Versammlung sich in Gemeinschaft mit der Kirche aller Zeiten weiß, dass irdische und himmlische Kirche, die bereits im Sanctus zusammengeklungen haben, in der Liturgie zusammenkommen. Wenn nach der Einheit der Charismen gefragt wird, kommt sie hier zum Ausdruck. Durch die Eucharistie bleibt Kirche vor Ort nie auf sich selbst bezogen, sondern ist, wenn die Liturgie sensibel gefeiert und wahrgenommen wird, immer Teil der Kirche im umfassenden Wortsinn. Das wird im Bischofsschreiben so formuliert: „Auch die kleinste Versammlung gelangt durch die Eucharistie zur sakramentalen Gemeinschaft mit der Ortskirche und mit der Universalkirche und nimmt an der unauflöslichen Verbundenheit der Kirche mit dem Herrn teil“ (GKS 23). Die Eucharistiefeier realisiert insbesondere durch die Bitten im Hochgebet dieses universale Moment von Kirche. In einem Prozess der Umstrukturierung von Kirche ist es notwendig, die kirchenkonstituierende Bedeutung einzelner Vollzüge und Elemente der Liturgie u. a. in der Predigt immer wieder so ins Bewusstsein zu rufen, dass sie in der Gebetspraxis sprechen können.

Die Gabenprozession aus der Gemeinde symbolisiert, wie die vielen Gaben in der Gemeinde in das eine eucharistische Geschehen Jesu Christi eingehen: Vielfalt und Gemeinschaft werden im Zeichen zusammengebracht. Im Brotbrechen und mehr noch im Kommunizieren von diesem gebrochenen Brot wird erfahrbar, dass alle an dem einen Christus Anteil erhalten und Gemeinschaft in Christus gestiftet ist. Es sind im Grunde alte Zeichen der Liturgie, in denen das Zusammenführen der Charismen durch Christus auf ganz einfache Weise sichtbar werden kann. Sie erhalten unter veränderten Vorzeichen neue Kraft.

Dabei ist das Bewusstsein wichtig, dass die Messfeier insgesamt auf das Wirken des Geistes Gottes zurückgeht. Schon in den Schlussformeln der Orationen und des Hochgebets in der Eucharistie (und natürlich nicht nur in dieser Liturgie) wird deutlich, dass diese Feier nicht in sich ruht und bei aller berechtigten Gestaltungsfreude und ‑notwendigkeit im Letzten nicht von Menschen gemacht ist, sondern ihren Anfang bei Gott nimmt. Immer dann, wenn „durch“ oder „im Heiligen Geist“ gebetet wird, kommt das zur Sprache. Vermutlich ist oft zu wenig bewusst, was solch formelhaftes Sprechen in der Liturgie bedeutet: Es verweist auf theologische wie spirituelle Grundkonstanten der Liturgie und muss deshalb immer wieder ins Wort gehoben werden. Mehr noch: Die Liturgie „verweist“ nicht nur, sondern in ihr „geschieht“ etwas: Wer so feiert, partizipiert am Geschehen zwischen Gott und Mensch.

7.   Mit der Liturgie auf dem Weg des Glaubens

Kirche versteht sich als Gemeinschaft, die sich um Christus versammelt und, als Kirche in Bewegung und Veränderung, mit ihm auf dem Weg ist. Das Wegmotiv, eine Metapher für Bewegung, taucht mehrfach auf, gleich ob vom „Berufungsweg“, vom „Weg des Glaubens“ oder vom Weg zum „Gottesreich“ gesprochen wird (GKS 24). Das ist ein nach innen wie nach außen wichtiges Moment: Nach innen ist die Kirche als Gemeinschaft mit Christus auf dem Weg und wird durch ihn zu einer nicht allein quantitativ, sondern vor allem qualitativ ausgezeichneten Gemeinschaft. Ein biblisches Beispiel dafür erzählt die Emmausperikope (Lk 24,13–15): Christus begegnet den beiden Jüngern auf dem Weg. Zu dritt bilden sie eine Weggemeinschaft, die durch die Schriftauslegung und das Brotbrechen ihren spezifischen Charakter erhält und vor allem Gemeinschaft wird, die aus dieser Christusbegegnung lebt: Nachdem Christus für sie nicht mehr sichtbar ist, machen sich die Jünger auf den Weg, um den anderen von ihrem Erlebnis zu berichten. Kirche entsteht aus der liturgischen Gemeinschaft mit Christus, die wiederum neue Gemeinschaft mit dem Auferstandenen begründet. Ein dynamischer Prozess der Bildung von Kirche wird in Gang gesetzt.

Wenn man die Eucharistie so einbindet, wie es im Dokument geschieht, müssen in ihrer Feier die Charismen der Gläubigen sichtbar werden und zum Tragen kommen. Auf den Zusammenhang zur Participatio actuosa der Getauften ist bereits hingewiesen worden. Die veränderte Situation der Kirche macht es dringlich, diese Teilnahme ernst zu nehmen. Die Ausführungen über die Charismen und ihre Bedeutung für den Einzelnen wie die Kirche insgesamt unterstreichen das. Eine Messfeier, die das von ihren Feierformen, der Rollenverteilung, der Sprache, des Gesangs usw. her nicht zulässt, leistet das ekklesiologisch so bedeutsame Moment der Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft der Kirche nicht. Dann hängt aber die Aussage, dass die Charismen der Gläubigen der Reichtum der Kirche sind, in der Luft.

8.   „Gemeinsam Kirche sein“ – Liturgie vor neuen Herausforderungen

Das Wort der deutschen Bischöfe richtet große Erwartungen an die Liturgie. Es bleibt abzuwarten, ob die Liturgie unter den neuen Voraussetzungen regional immer größerer Pfarreien diese Erwartungen erfüllen kann oder überfordert ist. Die Liturgie wird hier wie ein Seismograph wirken. Kritisch ist zu fragen, wo Strukturen die Liturgie an ihre Grenzen führen, so dass die Spannung zwischen der konkreten Gemeinschaft vor Ort und der Sonntagseucharistie in einer zentralen Kirche nicht mehr ausbalanciert werden kann (GKS 26). Die Liturgie steht vor neuen, aber letztlich alten Herausforderungen. Sie sammelt Kirche immer wieder neu – wenn sie mit ihren eigenen Riten und Ritualen sprechen kann. Dazu gehört dann eine gemeinschaftsstiftende Atmosphäre der Liturgie, die sich schon darin zeigt, wie Menschen beim Betreten des Kirchenraums aufgenommen werden, gehört eine Kultur liturgischer Glaubensartikulation, die Versammlung vor und mit Gott ausdrückt, und zählt die Art und Weise, wie die Mitfeiernden sich in die Liturgiefeier einbringen können – all das betrifft natürlich den Feiercharakter der Liturgie insgesamt. Die verschiedenen Charismen müssen in der Liturgie sichtbar werden können. Damit die Gläubigen ihre „persönlichen Gaben“ hier sinnvoll einbringen können, bedarf es einer theologisch und ästhetisch überzeugenden Ars celebrandi. Sie wiederum setzt eine fundierte liturgische Bildung voraus, die ohnehin notwendig ist, wenn kirchliche Gemeinschaft in der Liturgie erfahrbar werden soll.

Die Überlegungen des Dokuments nehmen mit der sonntäglichen Eucharistie die Höchstform der Liturgie am Sonntag als für die Kirche zentralen Tag der Woche in den Blick. In der Praxis werden andere Formen wie Wortgottesdienste, Tagzeitenliturgien, Wort-Gottes-Feiern eine Rolle spielen müssen, wenn die Versammlung zur Kirche aus der Liturgie heraus gelingen soll. Wenn das Ziel die „Verwirklichung der Einheit der Kirche“ (GKS 26) ist, kann die Liturgie sicherlich einen wesentlichen Beitrag leisten.

Jedoch darf die Kirche nicht bei sich bleiben, sondern muss sich als Kirche unter den Menschen verstehen. Eine Kirche, die zur Gesellschaft hin offen ist, dies auch in ihren Feierformen, braucht eine klar definierte Mitte, und das ist ohne Zweifel die sonntägliche liturgische Versammlung. Aber dabei darf die Kirche und dürfen die Einzelnen nicht stehenbleiben. „Die Fernen mit Hilfe der Charismen des Geistes zu Nahen [zu] machen“, nennt das Dokument der Bischöfe als Aufgabe und weist darauf hin, dass „Sendungen und Sammlungen […] nie abschließend und schon gar nicht ausschließend [sind]“ (GKS 22), sondern neu zusammenführen (GKS 22). Das muss über die Kirche hinaus in die Gesellschaft hinein gelten und darf bei allem notwendigen Nachdenken über „die Verwirklichung der Einheit der Kirche“ (GKS 26) nicht vergessen werden.