Dr. Ottmar John, Referent im Bereich Pastoral im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, rückt in seinem Grundlagenbeitrag die Feier der Eucharistie in ein rechtes Verhältnis zu anderen Vollzügen des Kircheseins. Gleichwohl das Sakrament der Eucharistie das Zentrum des kirchlichen Lebens ist, ist es auf die anderen Vollzüge verwiesen, ohne die es nicht im Zentrum stehen könnte. Die Kirche als ganze ist Sakrament, indem die Eucharistie das Ganz-Sein ihrer Teilvollzüge vorwegnimmt.
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Wenn von der Kirche die Rede ist, denken viele Menschen – fromme und distanzierte engagierte und zurückhaltende – an die Heilige Messe. Dort wo die Messe gefeiert wird, dort ist Kirche. Und viele schließen daraus: Wo nicht die Eucharistie gefeiert wird, dort ist die Kirche nicht, dort ist weltliches Leben. Und weil die Feier der Eucharistie nicht ohne Priester möglich ist, deswegen meinen viele Menschen: Nur dort, wo ein Priester ist, kann Kirche sein. Und wo keiner ist, ist eben auch keine Kirche. Anders ist es nicht zu erklären, wenn die Leute angesichts der Schaffung größerer Seelsorgeeinheiten verbittert sind: Zuerst geht die Post, dann der Edeka und jetzt, wo wir keinen neuen Pfarrer bekommen, auch noch die Kirche. Dass sie selbst getauft sind, scheint bedeutungslos. Dass nach dem Gesetzbuch der Kirche das erste Definitionselement der Kirche und so auch der Pfarrei die Gemeinschaft der Getauften ist, wird in dieser Sichtweise völlig ignoriert.
Bestenfalls ist man noch bereit, diejenigen Einrichtungen und Institutionen als Kirche anzuerkennen, die vom Pfarrer oder vom Bischof juristisch und ökonomisch abhängig sind. Definitionselement von Kirche ist dann die Tatsache, dass die vom Bischof verwalteten Gelder fließen und die hauptberuflich Tätigen im ausdrücklichen Auftrag des Bischofs oder Pfarrers handeln. Eine solche Ansicht von Kirche ist sehr säkular. Wenn nur die institutionelle Abhängigkeit definiert, was Kirche ist und was nicht, dann ist die Kirche auch nicht mehr als ein zivilgesellschaftlicher Verein oder ein Unternehmen. Zumindest Letzteres definiert seine Grenzen ja über die Verfügungsmacht über seine Arbeitnehmer und Produktionsstätten, letztlich über den Besitz von Kapital, mit dem Menschen entlohnt und Gebäude wie Maschinen erworben werden.
Die Realität der Kirche als Geflecht von Besitzverhältnissen und Verfügungsmacht zu beschreiben hat jedoch eine gewisse Berechtigung. Denn die Kirche in der Bundesrepublik verfügt über gewaltige Liegenschaften und Gebäude und sie ist der zweitgrößte Arbeitgeber. Aber das ist ein kleiner Ausschnitt der Kirche. Die Wahrnehmung der Kirche darauf zu beschränken, wäre nicht nur unzureichend, sondern falsch. Was die Kirche wirklich ist, ist nicht nur eine Frage ihrer gesellschaftlichen Konstruktion, sondern auch eine Frage des Anspruchs, den sie an sich stellt. So wie sie sein soll und sein will, das gehört zu ihrer Realität. Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung können nie gänzlich übereinstimmen, dürfen aber auch nicht zu sehr auseinanderklaffen. Höchste Vorsicht ist geboten, wenn sie in Widerspruch zueinander geraten. -
Die Kirche ist da, wo die Sakramente gefeiert werden. Vor allem in der wöchentlichen Versammlung der Eucharistie. In vielen Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils wird die Eucharistie als Zentrum und Höhepunkt des Lebens der Kirche bezeichnet. Und wenn denn die Eucharistie das Zentrum ist, dann muss es auch etwas um das Zentrum herum geben. Es muss etwas geben, das das Zentrum zentriert, damit es Zentrum sein kann. In den Sakramenten handelt Christus selbst, in der Eucharistie ist er real anwesend, wenn auch verborgen unter den Zeichen von Brot und Wein, in seinem Wort, im Priester und in der versammelten Gemeinde: Und dort, wo der Herr selbst anwesend ist, sind alle eins. Was wir jetzt nur mit den Sinnen unseres irdischen Leibes in den materiellen Zeichen der Sakramente wahrnehmen können, ist doch so wirksam, dass es im Vertrauen auf den allmächtigen gütigen Gott eines Tages vollständige erfahrbare Realität sein wird. Bis dahin legt die Kirche auf die verschiedensten Weisen durch die verschiedensten Menschen und Gruppierungen, Einrichtungen und Institutionen Zeugnis von der Hoffnung ab, die Jesus Christus in die Welt eingestiftet hat und die in der Kirche lebendig bleibt. Solange die Kirche auf der irdischen Pilgerschaft ist, solange bleiben die vielen Lebensäußerungen der Kirche verschieden und geraten oft genug auch in Spannung zueinander. Aber schon jetzt sind sie in der Feier der Sakramente eins, untereinander und eins mit Jesus Christus. Denn wo der Herr wirklich anwesend ist, ist die Zwietracht und Spaltung, der Unfrieden und die zerstörerische Herrschaft von Menschen über Menschen schon jetzt überwunden, auch wenn wir es erst erfahren können, wenn wir dieses Geschenk der Einheit angenommen haben und es immer mehr in unserem Leben und Handeln und für alle Menschen verwirklichen.
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Die Eucharistie kann nur Höhepunkt und Zentrum sein, wenn es etwas gibt, das sie zentriert. Es gibt Wege ins Zentrum, die man beschreiten muss, will man ins Zentrum gelangen. Es gibt Hinwege zur Begegnung mit dem Herrn – man muss zum Herrn umkehren, ohne dass die Umkehr, zu der wir in der Lage sind, seine Gegenwart bewirken könnte. Und vor allem gehört zur Begegnung mit dem auferstandenen Herrn in der Eucharistie, dass die um den Altar versammelte Gemeinde sich nicht verschließt, sondern ausstrahlt in die Welt. Die, die dem Herrn begegnet sind, können nicht anders, als die Welt zu verwandeln, ihr seinen Frieden zu bringen und seine Liebe auf menschliche Weise erfahrbar zu machen. Das alles ist Kirche. In dieser Bewegung zu den Menschen wächst die eucharistische Kirche, die sich nicht auf die Liturgie beschränken kann. Das Zweite Vatikanische Konzil begreift die ganze Kirche, ihre Bewegung zu den Menschen und ihre Pilgerschaft zum ewigen Heil, als Sakrament der Gegenwart des Herrn in der Schöpfung. Die ganze Kirche ist Sakrament – Zeichen und Werkzeug des Heils (vgl. Lumen gentium 1). „Christus hat, von der Erde erhöht, alle an sich gezogen (vgl. Joh 12,32). Auferstanden von den Toten (vgl. Röm 6,6), hat er seinen lebendigmachenden Geist den Jüngern mitgeteilt und durch ihn seinen Leib, die Kirche, zum allumfassenden Heilssakrament gemacht“ (Lumen gentium 48).
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Die ganze Kirche ist Sakrament – auch das Handeln und die Lebensäußerungen, die nicht in der Feier der Sakramente bestehen, auch die Gruppierungen und Einrichtungen, die nicht originäre Orte der Feier der Eucharistie sind. Können die Sakramente, in denen die Kirche in der Gegenwart ihres Herrn auf zeichenhafte Weise ganz und eins ist, nicht ohne einen Priester gefeiert werden, so sind aber auch die Verkündigung der Religionslehrer und Katecheten, das Gotteslob, das in den Familien erklingt und die Solidarität mit den Flüchtlingen und Armen wirklich Kirche. Als Teilvollzüge streben sie danach, ganz zu werden. Sie lassen sich durch andere Kompetenzen und Zeugnisse, Charismen und Kenntnisse bereichern. In der Feier der Eucharistie nehmen sie dieses Ganz-Sein schon jetzt vorweg. Insofern kann die Sakramentalität der ganzen Kirche und aller ihrer durch Laien verantworteten Teilvollzüge nicht gegen die Feier der Sakramente, der der Priester vorsteht, ausgespielt werden. Beides ist aufeinander angewiesen, wie das Zentrum die Umgebung braucht, damit es Zentrum sein kann. Aber die Feier der Gegenwart des Herrn in den Sakramenten enthält nicht schon alle Teilvollzüge in sich, deren Realisierung außerhalb der Liturgie sich dann erübrigte. Die Quelle des Heils, die die Sakramente sind, kann man nur an dem Wasser erkennen, das sie verströmt und das die Wüste fruchtbar macht. Die Sakramente brauchen das Leben, das sie verwandeln. Dies geschieht im Zeugnis derer, die sich durch die Taufe und Firmung von Gott in die Welt gesandt wissen. Und diese Sendung wird am Ende jeder Eucharistiefeier liturgisch bewusst gemacht.
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Weder kann die Sakramentalität aller Handlungen und Zeugnisse, die die Getauften bewusst als Glieder des Leibes Christi vollziehen, die Feier der Gegenwart des Herrn in den Sakramenten ersetzen, noch kann die Liturgie alles sein, was die Kirche ist – trägt doch „die pilgernde Kirche in ihren Sakramenten und Einrichtungen, da sie zur Weltzeit gehören, die Gestalt dieser Welt, die vergeht“ (LG 48). Gemeinsam sind wir das priesterliche Gottesvolk, das durch die vielen Charismen die Welt verwandelt. Einige aber erinnern uns in ihrem besonderen Dienst, durch ihr Lebenszeugnis und ihr Amt, an den Ursprung und an das Ziel der Pilgerschaft der Kirche – die Gemeinschaft mit Jesus Christus, die schon jetzt beginnen kann.