Thesen und Impulse zu einer Kirche in Bewegung
Wie gelingt anders Kirche sein? Dr. Norbert Copray, ehrenamtlicher Herausgeber und Gesellschafter der Zeitschrift Publik-Forum, plädiert für mehr Mut zu gewollter Vielfalt in der Kirche. Faktisch ist Kirche schon lange kein monolithischer Block mehr, diese Tatsache gilt es anzunehmen und zu leben. Aktuelle Neuansätze kirchlicher Vielfalt kommen ebenso zur Sprache wie ihre biblischen Ursprünge.
„Frag hundert Katholiken was das Wichtigste ist in der Kirche. Sie werden antworten: Die Messe. Frag hundert Katholiken was das Wichtigste ist in der Messe. Sie werden antworten: Die Wandlung. Sag hundert Katholiken, dass das Wichtigste in der Kirche die Wandlung ist. Sie werden empört sein: Nein, alles soll bleiben, wie es ist!“
Lothar Zenetti, katholischer Priester
und Schriftsteller (geb. 1926)
A. Einstieg: Schlaglichter und Schlagschatten
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Die globale Gesellschaft, die einzelnen Gesellschaften in Ländern, Staaten und Ethnien, die Organisationen und demzufolge die Kirchen sind einer immer weiter gehenden Differenzierung unterworfen. Strukturen werden aufgefächert: aus Makro- werden Meso-, dann Mikro-, schließlich atomare und subatomare Strukturen. Eine Folge der neuzeitlichen, irreversiblen Individualisierung und Pluralisierung. Zugleich nehmen die Sehnsucht der Menschen nach Ganzheitlichkeit, nach Verbundenheit und nach Beheimatung wie auch die Notwendigkeit einer größeren Einigkeit und globalen Solidarität zu wegen der Erfordernisse, mit sozialen, ökonomischen und ökologischen Missständen (Klimafolgen) fertigzuwerden. Wir befinden uns inmitten einer (post-)modernen Dekonstruktion der menschlichen Gesellschaft(en). Symptome sind regionale Territorialkriege, zentralistische Globalökonomie, Flucht- und Völkerbewegungen, Entwicklung neuer Initiativen und Solidargruppen mit digitaler Reichweite.
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Die Ausdifferenzierung und die Dekonstruktion sind ein Erkenntnisergebnis. Wir haben gelernt und verstanden, differenzierter und ganzheitlicher, lokal und global, tiefsinnig und weiträumig wahrzunehmen und zu urteilen. Zu den Motoren gehören die Wettbewerbsdynamik des globalen Kapitalismus, die Renditehatz der Global Player und regionalen Unternehmen, der Bildungsfortschritt und die digital-globale Informations- und Kontaktlage, der globale Problemdruck, die visionslose Politik mit Anleihen bei national getriebenen Interessenkonflikten, die gesteigerte Erwartung von Menschen an ein Leben in Frieden und Harmonie sowie das Vakuum an sinnstiftendem Sinn des Sinns.
B. Vom Monolith über das Mosaik zum Netzwerk
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Aus der Distanz sieht der Katholizismus immer noch recht monolithisch aus. Aus der Nähe zeigt sich der katholische Block als ein unübersichtliches Gewebe. Es besteht aus hunderten, tausenden, hunderttausenden Haupt-, Teil-, Unter- und Nebenströmungen in noch einmal zig Gemeinden, Bistümern, Provinzen und Gruppen. Kein Wunder bei mehr als 1,3 Milliarden Katholiken. Ohne Substrukturen kann ein soziales Gebilde dieser Größe gar nicht existieren. Gerade auch in ihnen wirkt der Geist Gottes. Die katholische Landschaft ist seit Mitte der 1960erJahre von einem heftigen Pluralisierungsschub erfasst worden, wie er für Modernisierungsprozesse typisch ist. Eine Dynamik, die man durchaus dem Wirken von Gottes Geist zumessen kann. Und dadurch geraten die vielen Strömungen zueinander in Gegensatz und in erbitterten Kampf.
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Eine komplexe Struktur wurde von einem dynamischen Prozess erfasst. Vielfalt überwindet das Uniforme, verändert einen Katholizismus, wie er in den Augen vieler Menschen Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lang bestanden hat. Von esoterisch angehauchter Spiritualität über eine sozial-liberale Haltung bis hin zu traditionell dogmatisch fixierter Riten- und Formelgläubigkeit ist alles vorhanden, was an Bandbreite überhaupt denkbar ist. Wenn die römisch-katholische Kirche trotzdem monolithisch erscheint, rührt dies allein daher, dass sie nicht föderal, sondern zentral organisiert ist, vom Papst und dem Vatikan repräsentiert wird. Gerade der agile Franziskus lenkt die Aufmerksamkeit wieder sehr auf diese Konfession und ihre Zentrale. Daneben werden andere Kirchen kaum noch wahrgenommen.
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Das Aufbrechen des Monoliths geht in zweierlei Richtung. Zum einen in eine explosive. Liberal-kritische Reformer treffen auf fundamental-hierarchisch-klerikal fixierte Traditionalisten. Ihre Kontroverse konnte auf der jüngsten Familiensynode im Vatikan nur mit Mühe kaschiert werden. Zum anderen in eine implosive. Kirchenmitglieder treten aus oder verschwinden lautlos aus dem Gemeindeleben. Mal sind sie von sexuellen Missbrauchsfällen angewidert, mal empört über das Amtsverständnis eines Bischofs. Ihr Lebensgefühl löst sich allmählich vom Katechismus des Lehramtes.
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So stehen Menschen nebeneinander in der Kirchenbank, die ganz Verschiedenes glauben, was gar nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Und das gibt es sogar innerhalb einer Person: Brüche, Widersprüche, Deformiertes, Anachronistisches im individuellen Glauben. Was ist der nächste Prozessschritt in diesem Umbruch? Die Spannungen zwischen Modernisierungsverweigerern und Traditionsorientierten werden zunehmen. Solange die Zentrale institutionelle Einheit bewahren kann, bleibt es beim Patt. Lehre und Hierarchie stagnieren, explosive Gemengelagen nehmen zu – oben Verkrustung, unten expressiver Druck. Wer dem ausweichen möchte, geht entweder in die Distanz oder baut sich mit Versatzstücken ein Glaubensportfolio aus katholischen, evangelischen, charismatischen und nichtchristlichen Mosaiksteinen.
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Aus dem Monolith katholische Kirche ist längst ein Mosaik geworden: individuell und sozial. Der Katholizismus mutiert zu Katholizismen. Auf das Mosaik wird das weitläufige Netzwerk folgen, durchzogen von roten Fäden. Diese Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten, höchstens zu kaschieren oder zu leugnen. Das aber verschärft die Spannungen und beschleunigt den Prozess. Gleichzeitig machen sich Gruppen, Gemeinden und Einzelne auf den Weg, die Kirche bzw. Gemeinde des 21. Jahrhunderts in den oben genannten Bedingungen und Dynamiken neu zu erfinden, gewissermaßen einen Re-Start unter Berücksichtigung der Traditionen, der gegenwärtigen Bedingungen und der gemutmaßten künftigen Anforderungen zu entwickeln bzw. herauszufinden.
C. Zu einer qualifizierten Vielfalt finden
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Der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und dem Bistum Hildesheim ist ein gewagtes Zukunftsprojekt geglückt. Sie nennen es: „Kirche hoch zwei“. Und ist schon bislang eine ökumenische Meisterleistung. Ihren Berichtsband „Kirche²“ nennen sie eine „ökumenische Vision“. Die beiden Kirchen haben mit vielen ihrer Mitglieder und Interessierten einen Suchprozess „nach neuen Formen einer zeitgemäßen authentischen Verkündigung und nach neuen Gemeinschafts- und Gemeindeformen“ gestartet, wobei sie „miteinander dieselben geistlichen Wurzeln entdeckt“ und über den eigenen Tellerrand etwa in die anglikanische Kirche geschaut haben und sich von dort inspirieren ließen. Hier wird Volkskirche ganz anders und neu erfunden im Sinne einer Kirchenneuentwicklung – „Ekklesiogenese“ – in faszinierender ökumenischer Dimension.
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Das seit dem 2. Vaticanum herrschende theologische Stereotyp von den Grundfunktionen einer Gemeinde: Zeugnis und Verkündigung (Martyria), Liturgie, insbesondere Feier der Eucharistie, Diakonie und Koinonia, Gemeinschaft der Glaubenden, eignet sich nicht zur Organisation einer komplexen Kirchen- und Gemeinderealität in den Komplexitäten der Gegenwart. Denn alle Grundzüge zusammen sollen gemeindliche Realität prägen, ja, sogar jede einzelne christliche Existenz. Daher sind, etwa wie Peter Neuner und Paul M. Zulehner begründet haben, Mystik und Diakonie bis hinein in die politische Diakonie miteinander verbunden, was traditionelle Gemeindeschemata zu sprengen vermag.
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„Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche lieber, die verletzt und schmutzig ist, weil sie auf die Straßen hinausgeht, als eine Kirche, die wegen ihrer Verschlossenheit und Bequemlichkeit krankt und sich an eigenen Sicherheiten verklammert.“ Papst Franziskus, Evangelii gaudium (2013)
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Richard Hartmann treibt mit seiner Frage „Was kommt nach der Pfarrgemeinde?” die Perspektiven für eine Gemeinde der Zukunft voran. Und plädiert zu Recht für eine „Pastoral der Freigabe“, die die Spiel- und Freiheitsräume für die Gemeinden und für eine Vielfalt von legitimierten Diensten erweitert, weil nur so neue Wege gefunden, Menschen neu angesprochen und gewonnen werden, das Evangelium neu inkulturiert und damit ansprechend und wirksam wird.
D. Neutestamentliche, frühchristliche Vergewisserung
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Vielfalt in der Einheit: Es gibt einen Leib, aber er besteht aus vielen Gliedern. Jedes Organ, jeder Körperteil hat eine eigene Funktion. Würden alle nach den hervorragendsten Tätigkeiten streben und ihre eigene Funktion dabei vernachlässigen, wäre der Körper krank. So haben auch wir, die Glieder am Leib Christi, nicht alle dieselbe Aufgabe. Jeder darf mit seiner Aufgabe zufrieden sein und sie treu erfüllen. Nur so ist ein gesunder Organismus gewährleistet. Hören wir besser damit auf, uns ständig mit anderen zu vergleichen. Schluss mit geistlichem Hochmut oder Minderwertigkeitsgefühlen!
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Einheit in der Vielfalt: Die vielen Glieder bilden einen Leib. Kein Organ oder Körperteil kann seine Funktion in Unabhängigkeit von den anderen Gliedern ausüben und erst recht nicht in Unabhängigkeit vom Haupt. Was wäre, wenn der eine Fuß in diese, der andere aber in jene Richtung laufen würde? Es gibt keine Unabhängigkeit in einem Leib. So bilden wir, die vielen Glieder, den einen Leib. Das Haupt, Christus, gibt die Impulse, und die einzelnen Gläubigen folgen diesen Impulsen und arbeiten so als ein harmonisches Ganzes. Wenn ein Gläubiger sich verselbständigt und seine Aufgaben unabhängig von Christus oder den anderen Gläubigen ausübt, kann nur Chaos die Folge sein. Lasst uns daher das Haupt festhalten und aufeinander Acht haben (Kol 2,19; Heb 10,24).
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Schon das frühe Christentum kannte unterschiedliche Gemeindeformate, ‑schwerpunkte und ‑theologien (Jerusalem, Damaskus, Antiochien, Korinth, Rom; synoptische, paulinische, johanneische, gnostische Traditionen), die streitbar und doch aufeinander bezogen koexistierten und kooperierten. Unter dem Druck einer Fusion von spätantiker Kirche und römischer Herrschaftsideologie wurden der Vielfalt zuerst engere Grenzen, schließlich eine genau Vorgabe gesetzt, die schließlich bis zum römisch-katholischen Zentralismus führte, der zur entsprechenden Aufsplitterung der christlichen Kirche(n) führte.
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Unter der monolithischen, Divergenz kaschierenden Decke hat sich stets eine große Vielfalt erhalten. Markierungen: Ordenstraditionen und Klöster, Einzelheilige und Vorreiter, spirituell-fromme Traditionen, ästhetische Traditionen, Aufbruchsinitiativen von Volksmission bis katholische Vereine usw. Etliche, die keine Heimat fanden, sind in großer Zahl gegangen: Arbeiter, kritische Frauen, junge Menschen, engagierte ökologische Menschen. Verliert die Kirche jetzt auch die alten Menschen? Ergo: Vielfalt gibt es schon immer, oft für Außenstehende und selbst für Zughörige nicht richtig wahrnehmbar. Eine zentralistische, detailverliebte Steuerung der Vielfalt ist gescheitert. Ein neuer Ansatz muss gefunden und erprobt werden.
Starre nicht auf das, was früher war,
steh nicht stille im Vergangnen,
ich, sagt Er, mache neuen Anfang,
es hat schon begonnen,
merkst du es nicht?Huub Oosterhuis
E. Neuansätze zu Gemeindeentwicklung und Vielfalt
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Um der Wegweisung Gottes aber auch folgen zu können, bedarf es nach Christian Hennecke, Regens und Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim, der vermehrten Sensibilität und Aufmerksamkeit für diejenigen Personen und Orte, an denen der Heilige Geist fernab der klassischen Gemeindestrukturen auf vielfältige Weise wirksam ist. Junge Menschen etwa hätten zwar oftmals eine ganz andere Umgangsweise mit dem Glauben und lebten ihre Spiritualität häufig außerhalb der Kirche. Gerade deswegen müssten sich die Kirchengemeinden zur Selbstvergewisserung immer wieder die Frage stellen, ob sie die Menschen in ihrem Umfeld kennen und wie diese lebten. „Den Christen auf den unterschiedlichen Etappen ihres Glaubensweges beizustehen und diesen Weg entschlossen zu fördern, das ist der entscheidende Punkt dabei.“ Zumal niemand, wie er unterstreicht, Christ einfach „sei“ – sondern jeder es kontinuierlich „werde“. Den Menschen in ihrer Nähe in diesem „Werdeprozess des Glaubens” die Kraft zu geben, „die zu sein, die sie sind“, sei der Auftrag an die Kirchengemeinden. „Wenn die Menschen entdecken, was es heißt, getauft zu sein, nehmen sie kirchliches Handeln selbst in die Hand. Dann bricht neues Leben auf.“
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Dieses Aufbrechen gelinge dort, wo Partizipation in einem umfassenden Sinn möglich sei. Die vertrauensvolle Übertragung von Diensten und Aufgaben etwa trage dazu bei, dass die Gläubigen ihr Selbstbewusstsein herausbilden und vertiefen könnten. Hennecke spricht in diesem Zusammenhang nicht vom „Ehrenamt“, sondern vom „Vollzug des Glaubens mit den eigenen Gaben“. „Charismen nennen wir das in der Kirche, und diese gilt es zu fördern.“ Diese Charismen zu stärken, entspreche der Taufwürde aller Christen – und habe für die Kirche grundlegende Bedeutung. „Über unsere Zukunft wird entscheiden, ob wir alle daran teilhaben, Kirche zu sein.“
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Warum etwa, so Hennecke, sollte ein Pfarrer, der in seiner Gemeinde vor Problemen steht, nicht alle Gemeindemitglieder zusammenrufen, um gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden? „Nur zusammen sind wir Kirche. Das ist nicht allein Sache des Pfarrers. Und der Wendepunkt muss sein, künftig ohne Ideologie auf das viele Gute zu schauen, wo sich Kirche ereignet.“ Hennecke unterteilt die neu entstandenen Typen, die eben keinen Konventionen mehr folgten, sondern ihren Kirchenbezug selbst wählten, in „Pilger“, die einige der kirchlichen Angebote wahrnähmen, ohne nähere Verbindlichkeiten einzugehen, und „Konvertiten“, die ihren Umgang mit dem Glauben ausschließlich aus ihrem Empfinden heraus gestalteten und häufig etwa Klöstern näherstünden als Kirchengemeinden, da diese ihnen mitunter zu „banal“ seien. Hennecke zielt auf eine Kirche, die auch diese Menschen und ihre Bedürfnisse kennt, ihre Spiritualität aufspürt und fördert. „Und die Kirchengemeinden werden sehen, dass auf diese Weise Raum für Neues frei wird“, so der Hildesheimer Theologe und damit sinngleich mit den Überlegungen von Richard Hartmann.
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Norbert Mette macht darauf aufmerksam: „Ein eher versteckter und offensichtlich nachträglich eingefügter Abschnitt in der dogmatischen Kirchenkonstitution ‚Lumen gentium‘ (2. Vaticanum), der in der Nachkonzilszeit theologisch und pastoral eine beachtliche Wirkung entfaltet hat: In Abschnitt 26 dieser Konstitution heißt es, dass die ‚Kirche Christi wahrhaft in allen rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen anwesend‘ ist. Und weiter: ‚In ihnen werden durch die Verkündigung der Frohbotschaft Christi die Gläubigen versammelt, in ihnen wird das Mysterium des Herrenmahls begangen. In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen Kraft die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche geeint wird.‘“
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Da, wo vor Ort Gläubige das, was seit apostolischer Zeit Kirche ausmacht (vgl. Apg 2,42–47), gemeinsam vollziehen, nämlich das Wort Gottes verkündigen, beten und Eucharistie feiern, den Notleidenden zur Seite stehen und über den Bischof Gemeinschaft mit der Gesamtkirche halten, ereignet sich Kirche im vollen Sinne – selbst oder gerade da, wo sie arm und klein sind und eine Minderheit bilden. Diese Sichtweise liegt in der Logik der ekklesiologischen Auffassung, die auf dem letzten Konzil wieder zur Geltung gekommen ist: Die Kirche ist nicht eine Institution, die zentralistisch strukturiert ist, sondern eine Gemeinschaft von Gemeinschaften – als Gesamtkirche eine Gemeinschaft der verschiedenen Ortskirchen (Bistümer), als Ortskirche eine Gemeinschaft der verschiedenen Pfarreien.
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In der Handreichung „Die Gemeinde“ für den pastoralen Dienst, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von der Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen herausgegeben, wurde schon 1970 (!) formuliert: „Unsere Pfarreien müssen zu Gemeinden werden“. Mette dazu: „Es wurde also zwischen ‚Pfarrei‘ und ‚Gemeinde‘ unterschieden im Gefolge der beiden Begriffen vorher jeweils gegebenen (soziologischen) Bestimmung: Die Pfarrei wurde als kirchlicher Verwaltungsbezirk umrissen, ‚in dem ein mehr oder weniger großer Anteil der Pfarrmitglieder nur eine passive Rolle spielt.‘ – Die Definition der Gemeinde lautete in der Handreichung: ‚Sie stellt eine Gruppe von Menschen dar, die an Jesus Christus glauben und versuchen, ihr individuelles und gemeindliches Leben an der Botschaft des Neuen Testamentes auszurichten; die Gemeindemitglieder sind in der Gemeinde in ein Geflecht von sozialen Beziehungen hineingebunden und übernehmen bestimmte Funktionen in der Gemeinde; den Mittelpunkt des Gemeindelebens bildet die Gemeindeversammlung, besonders der eucharistische Gottesdienst; die Gemeinde stellt aber kein Ghetto dar; sie versteht sich als integrierter Teil der Gesamtkirche und weiß sich verpflichtet zum Dienst an der Gesellschaft‘“ .
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Karl Rahner hat in seiner Schrift „Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance“ (Freiburg/Br. 1972) mit großer Klarheit aufgezeigt, worin die Anforderungen an die Kirche resp. an die Gemeinden bestehen, womit strukturelle Konsequenzen verbunden sind, wie sie kaum ein anderer Theologe derart deutlich aufgezeigt hat. Fünf Merkmale führt er darin an, die kennzeichnend sind für eine „Kirche der Zukunft“ – zumindest wie sie nach ihm theologisch gedacht werden kann:
- offen,
- ökumenisch,
- basisorientiert,
- demokratisch und
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gesellschaftskritisch.
Diese Merkmale ergänzen einander wechselseitig. Rahner: „Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche sein, die sich von unten her durch Basisgemeinden freier Initiative und Assoziation aufbaut“.
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In den letzten Jahrzehnten nach dem 2. Vaticanum hat die Kirchenleitung und haben die Kirchenleitungen diesen Weg nicht gewiesen, sondern alles getan, dass es nicht in diese Richtung geht. Grundmotive: Angst vor Veränderung und Freiheit, vor Kontroll- und Machtverlust, Visionsmangel für eine offene und lebendige Kirche, Mangel an avantgardistischen Gruppen und charismatischen Leitern, Verlust an Komplexitätskompetenz zu Gunsten von Komplexitätsreduktion, fundamentalistische Tendenz und Stärkung zentraler Kontroll- und Machtfunktionen. Doch so wird die Einheit von Vielfalt nicht hergestellt, schon gar nicht bewahrt, sondern subkutan vorangetrieben, weil diese Vorgehensweise immer mehr mit (post‑)modernen Mentalitäten und Erfahrungen kollidiert und Energieverluste produziert.
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Einheit wird nicht durch eine Zentralgewalt hergestellt, sondern durch eine geordnete, systematische, faire Verständigung über Grundlage, Prinzipien und Ziele einer Organisation, die von zentraler Stelle aus angeregt, am Laufen gehalten, fundiert und dessen Sinn immer wieder gedeutet und erneuert wird. Der Prozess ist wie bei einem Organismus offen für äußere Impulse, für interne Konflikte, für die stete Suche nach einer Balance. Die zentrale(n) Stelle(n) ist/sind verantwortlich für Fairness, Rücksichtnahme, Respekt und nichtverletzendes Verhalten. Es gibt systemische Funktionen für die Weiterentwicklung des Ganzen, die das Ganze und gleichzeitig die Lebendigkeit der einzelnen Glieder im Blick haben. Vielfalt – Diversity – wird gelebt, indem sie durch ganzheitliche Sicht- und Handlungsweise belebt und nicht durch Uniformität erstickt wird.
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Zu lernen wäre, mit einer ‚gemischten Kirchenkultur‘ umgehen zu lernen, mit dem Neben-, ln- und Durcheinander traditioneller, zeitgenössischer und avantgardistischer Gruppen, Strukturen, Bewegungen und Inhalte. Mit einem Mischwald, wie das Hennecke nennt. Und dafür den Gläubigen, und das sind inklusive der pastoralen Mitarbeiter und Priester alle, entsprechende Kompetenzen zu vermitteln oder entdecken und entfalten zu lassen. Neue Formen wachsen; aber nicht alles muss in hergebrachte Strukturen gepresst werden. Entscheidend sind Verbindungen, Beziehungen, Verknüpfungen. Wie in einem Netz. Und dabei auch die „defensive Klerikerkultur” (Franz-Xaver Kaufmann) zurückzudrängen und schließlich zu überwinden.
F. Schluss: Vorbild aus einer anderen Welt?
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Ein Beispiel unter anderen aus der kirchenfernen Zukunftswelt der Gegenwart: Gore stellt Gore‑Tex her, eine Membran, die von innen Feuchtigkeit durchlässt, von außen aber wind- und wasserdicht ist. Gore weiß eine besondere Kultur, Partizipation, Vernetzung, Steuerung und Zielstrebigkeit bei gleichzeitig hoher Produkt- und Lieferqualität zu vereinen. Eine flache Hierarchie kommt ohne Chefs und Manager im herkömmlichen Sinn aus. Es gibt keine klassische, festgelegte Rangordnung; vielmehr übernimmt man eine Führungsrolle, nachdem man sich aufgrund seiner fachlichen sowie sozialen Kompetenz den Respekt seiner Kollegen verdient hat und dadurch mit der Unterstützung des Teams rechnen kann. Die Arbeit wird in eigener Verantwortung und in Absprache mit dem Team organisiert. Wichtiger noch: Jede/r der 10.000 Mitarbeiter/innen bestimmt allein, wozu man sich verpflichtet (dieses so genannte „Commitment“ kann beispielsweise eine Aufgabe, ein Projekt oder auch eine neue Rolle sein) – aber sobald man sich entschieden hat, wird erwartet, dass man sich an diese Selbstverpflichtung hält und sie erfüllt. Ein „Haupt-Commitment“ ist dann das primäre Tätigkeitsfeld. Man muss sich darauf konzentrieren, kann aber auch zusätzliche Commitments annehmen – je nach lnteressenslage, den Anforderungen des Unternehmens und der eigenen Verfügbarkeit. Bei Gore sind zwischenmenschliche Beziehungen alles – ob zu Kollegen, Kunden, Verkäufern, Lieferanten oder den Gemeinden vor Ort. Die Bildung und Pflege langfristiger Beziehungen wird unterstützt, indem direkte Kommunikationswege gefördert werden. Natürlich nutzen alle E-Mail, aber sie bevorzugen trotzdem „Face-to-face“-Besprechungen und Telefongespräche, wenn es darum geht, mit den Mitmenschen eng zusammenzuarbeiten. Entscheidend: Es ist wichtig, ein Tätigkeitsfeld zu haben, das einen leidenschaftlich interessiert. Wenn man mit Herzblut an etwas arbeitet, ist man automatisch hochmotiviert und besonders fokussiert. Hat man die Chance, großen Einfluss auf seine Arbeit zu nehmen, motiviert dies umso mehr, Dinge zu bewegen, Erfolg zu haben und auf das Ergebnis stolz zu sein. Wer also mitmachen will, sollte unbedingt Leidenschaft für ein Aufgabengebiet mitbringen. Jeder ist Teilhaber der Firma, was sich nicht nur im Namen ‚Associate‘ widerspiegelt, sondern besonders in den Grundprinzipien, die alle teilen und die in ihren täglichen Aufgaben Orientierung geben. Sie wurden vom Firmengründer Bill Gore vor mehr als fünfzig Jahren aufgestellt, als er die Firma mit Familienangehören 1958 in einer Garage in den USA gründete:
- „Fairness untereinander und gegenüber jedem, mit dem wir in Kontakt kommen
- Freiheit, andere Associates zu ermutigen, ihnen dabei zu helfen und es ihnen zu erlauben, sich Wissen, Fähigkeiten und Verantwortung anzueignen
- Fähigkeit zur Übernahme von Verpflichtungen und deren Einhaltung
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Beratung mit anderen Associates vor dem Ergreifen von Maßnahmen, die dem Ruf des Unternehmens schaden könnten“
Bei Gore heißt es: „Uns ist klar, dass die Qualität unserer Beziehungen großen Einfluss auf unseren Unternehmenserfolg hat. Unsere Kultur basiert auf verschiedenartigen Standpunkten und Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensstile. Die Associates sind es, die Gore zu einem außergewöhnlichen Unternehmen machen. Ihr fundiertes Fachwissen, Erfahrung, Kreativität, Ausdauer und Leidenschaft sind es, die einzigartige und wertvolle Lösungen schaffen.
Dabei hilft uns die eng vernetzte, gitter-ähnliche ‚Lattice‘-Struktur unserer Organisation, die auf die Kraft kleiner Einheiten mit direkten Kommunikationswegen setzt. Gerade im weltweiten Kontext begünstigt diese Struktur, dass die unterschiedlichsten Perspektiven unserer Associates berücksichtigt werden können. Dies wiederum steigert die Effektivität unserer globalen Teams und führt zum besseren Verständnis der Bedürfnisse unserer globalen Kunden. Diversity heißt, alle Associates getreu unseren Grundüberzeugungen und Leitsätzen in unsere Kultur einzubinden. Nur so können wir unsere Kultur nachhaltig leben“. -
Es gibt mehr als 350 christliche Kirchen weltweit. Vielfalt ist garantiert. Die Einheit: an den von Jesus verkündeten Gott glauben, seine Auferstehung feiern und das Brot teilen, seinem Beispiel der geistlichen und tätigen Nächstenliebe folgen, die prophetisch-kritische Rede pflegen, die Gemeinschaft in der Vielfalt der Gläubigen in allen christlichen Kirchen sehen und ergreifen, ohne den anderen Religionen den Rücken zuzudrehen, die Geistesgaben und Dienste achten und einsetzen, das „Über-Leben“ in Gottes Gegenwart durch Liebe beginnen und im Tod vollenden lassen.
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Zwischen Einheit und Vielfalt bleibt eine spannungsreiche Dialektik zweier zugeordneter, einander auch durchdringender Pole, die Lebendigkeit und damit Dynamik hervorbringt. Das Eine kann nicht ohne das Andere. lm Glauben an den dreieinigen Gott haben Christen ein Ideal vom Ineinander von Vielfalt und Einheit ‚vor Augen‘, was zum Grundverständnis von Ganzheitlichkeit führt. Auf die Wahrnehmung kommt es an: In der Vielfalt lässt sich die Einheit (alles Lebendigen, alles Physischen, alles Irdischen, alles von Gott Geschaffenen: das Universale) erkennen; in der Einheit die Vielfalt (der Organe eines Organismus, der Bestandteile der einen Erde, der Geistesgaben in der einen Kirche, der Töne in der einen Musik). Sprache und Musik sind anschauliche, hörbare Beispiele für Vielfalt in Einheit und Einheit in Vielfalt. Der Punkt: die Grammatik, die gar nicht perfekt praktiziert werden muss, um sich untereinander zu verständigen. Zur Definition von Musik gibt es zahlreiche, konkurrierende Auffassungen; eine einheitliche Auffassung gibt es bis heute nicht. Trotzdem kann Musik überall gespielt und wahrgenommen werden. Orchester ohne Leitung (seit 1922) gibt es inzwischen etliche. Was sie verbindet, ist die Liebe zur Musik, das Können eines Instruments, die Hingabe an ein konzertantes Geschehen. Es ist nicht nötig, alle Ausdrücke und Prozesse von Lebendigem – und dass sollte eine Gemeinde und eine Kirche wohl sein – in eine Form, in ein Verständnis und in eine Kontrolle zu pressen. Es gelingt ohnehin nicht. Also eher dem Wirken des Geistes Raum geben, die Unterscheidung der Geister im gemeinschaftlichen Diskurs üben und sich auf die Liebe zu Gott und dem Nächsten, auf die Praxis guter Gaben und Begabungen sowie auf die Hingabe an ein soziales Geschehen verständigen.
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Für die Prozesse, die Vielfalt in Einheit lebendig sein und werden und Einheit in der Vielfalt wirksam werden lassen, sind nicht Strukturen maßgeblich, nicht primär die Passung in Kirchenrecht und Dogmatik. Entscheidend ist,
- ganz und gar von den Menschen her, die vor Ort sind, und auf sie hin zu denken,
- von den Ressourcen einer Gemeinde her und auf ihr Potenzial hin zu handeln,
- zugunsten einer qualitativen Vielfalt die quantitative Menge (z. B. Doppelungen) zu reduzieren,
- in der Gemeinde eine Art Expeditionsgruppe für eine Spurensuche zusammenzufinden,
- die Vielfalt der Menschen jenseits der Gemeinde zu sehen und ihre Themen mit denen der Gemeinde zu verbinden,
- nicht das dogmatisch korrekte Bekenntnis, sondern das rechte Handeln im Sinne von Mt 25 zum Maßstab der Zugehörigkeit zu machen,
- Widersprüche anzuerkennen, auszuhalten, produktiv aufzugreifen und so aus ihnen Motive und Antriebe für gemeindliches Handeln abzuleiten,
- Konzentrationssammlungen zu entwickeln (von Gebet, Meditation und Exerzitien über Agape und Eucharistie bis hin zu Pilgern und Zukunftswerkstatt) und wenige Anlässe zu schaffen, bei denen alle Akteure – ohne Anspruch auf Totalität – miteinander im Geist Jesu Christi in Beziehung kommen,
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für Fairness zu sorgen und einzutreten.
Was keiner wagt, das sollt ihr wagen
was keiner sagt, das sagt heraus
was keiner denkt, das wagt zu denken
was keiner anfängt, das führt aus.
Wenn keiner ja sagt, sollt ihr es sagen
wenn keiner nein sagt, sagt doch nein
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben
wenn alle mittun, steht allein.
Wo alle loben, habt Bedenken
wo alle spotten, spottet nicht
wo alle geizen, wagt zu schenken
wo alles dunkel ist, macht Licht.Lothar Zenetti