Wie entstehen neue Wege des Kirchseins und wie integrieren sie sich in die bestehende kirchliche Landschaft? Dr. Markus-Liborius Hermann, Referent für Evangelisierung und missionarische Pastoral bei der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral, schildert die bereits langjährigen Erfahrungen der Anglikanischen Kirche von England mit neuartigen Ausdrucksformen kirchlichen Lebens, die zuallererst für Menschen geschaffen sind, die nicht bereits Mitglied einer Gemeinde sind. Auch im deutschen Kontext sind auf diesen Impuls hin neue Gemeinde- und Gemeinschaftsformen dabei zu entstehen, die das Gesicht von Kirche verändern werden.
Die Church of England (Kirche von England) musste sich bereits in den 1980er Jahren massiven Herausforderungen stellen. Konstatiert wurde ein Rückzug des Christentums angesichts des veränderten Verhältnisses zwischen Kirche und Gesellschaft, massive kulturelle Veränderungen in der westlichen Welt, ein zahlenmäßiger Rückgang der Kirchenmitglieder sowie alternde Gemeinden. So begann die Kirche von England mit Experimenten zu „neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens“, den „fresh expressions of church“. Dieser Name spielt auf das Ordinationsgelübde der Kirche von England an, in dem es heißt, die Kirche habe den Auftrag, jeder Generation das Evangelium neu („afresh“) zu verkünden. Die fresh expressions geschehen unter einer maßgeblich missionarischen Perspektive – so auch der Titel Mission-shaped Church (Kirche gewinnt neue Gestalt durch Mission) des 2004 veröffentlichten Berichts der anglikanischen Generalsynode.
Grundsätzlich werden die neuen Ausdrucksformen von Kirche „als eine Kirchenform für unsere sich wandelnde Kultur [verstanden], die zuallererst für jene Menschen geschaffen werden, die noch nicht Mitglied einer Gemeinde sind“1. Sie zeichnet sich durch vier Merkmale aus. Sie ist:
- missional (Sie will für Menschen da sein, die sonst nicht zur Kirche gehen.)
- kontextbezogen (Sie will in den Kontext passen, in dem sie ihren Ort hat.)
- gestaltungsorientiert (Sie will ein Leben in der Nachfolge Jesu fördern.)
- kirchlich (Sie will Kirche werden, eine eigenständige Gemeinde sein, nicht Brücke zu einer bereits bestehenden Gemeinde.)
Dabei ist von Bedeutung, dass die „Verschiedenartigkeit der Kontexte … verschiedenartige neue Ausdrucksformen von Kirche“2 erfordert und diese auch hervorbringt. So sind in England seit 2004 über 3.000 fresh expressions entstanden. Beispielhaft sei genannt: eine Skaterkirche in Sussex, Bradford, namens „Sorted“. In der größten Skateranlage im Südwesten Englands, in der fast 2000 Jugendliche Mitglied sind, hat sich eine Gemeinschaft von 70–130 jungen Menschen gefunden, die regelmäßig am Samstagabend-Gottesdienst teilnehmen. 10 Jugendliche leben darüber hinaus für ein Jahr in einer quasi-monastischen Gemeinschaft. Sorted wurde vom Bischof von Bradford als eigenständige Gemeinde anerkannt. In Deutschland können u. a. die von der Idee der fresh expressions inspirierten Glaubensgespräche in einem Tattoo-Studio in Oldenburg genannt werden. Dabei handelt es sich um eine von einem Prediger in der Landeskirchlichen Gemeinschaft Visselhövede und der Inhaberin eines Tattoo-Studios gegründete Gemeinde, in der unterschiedlichste Menschen zusammenkommen und sich und ihren Lebensweg vor Gott bringen. Dies führte u. a. auch zu einer Weihnachtsliturgie im Tattoo-Studio.3 Auch in der Katholischen Kirche finden sich pastorale Experimente, die sich unter der Überschrift fresh expressions verstehen lassen. Genannt seien beispielsweise die Hauskirche von Jugendlichen und jungen Erwachsenen „kafarna:um“ (Aachen) und die Gemeinde „Zeitfenster“, die sich an moderne Erwachsene mit und ohne Kinder in der Aachener City richtet.
Im Blick auf die Vernetzung ist neben dem ökumenischen aufgestellten FreshX-Netzwerk besonders die ökumenische Bewegung „Kirche2“ zu erwähnen, die aus dem vom Bistum Hildesheim und der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers in Kooperation mit der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral im Jahr 2013 organisierten Kongress gleichen Namens hervorgegangen ist und die Inkulturation der anglikanischen Impulse in Deutschland unterstützt, u. a. durch eine Kontextualisierung und Implementierung der von den Anglikanern entwickelten Schulungsmaterialien für ehrenamtlich und beruflich engagierte Mitarbeitende. Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass die Frage der Konfessionalität im beschriebenen Zusammenhang oftmals neu bewertet wird. Dies führt verständlicherweise zu einer Diskussion, die am sinnvollsten im Kontext der ökumenischen Dimension einer missionarischen Pastoral verhandelt werden sollte.
Insgesamt ist sowohl in England als auch in Deutschland deutlich, dass die fresh expressions einerseits nicht als „Vorfeldpastoral“ und andererseits nicht in Konkurrenz zu bereits bestehenden Gemeindeformen zu verstehen sind. In diesem Kontext hat sich der Begriff der „mixed economy“, der Mischwirtschaft, herausgebildet, der deutlich machen will, dass die missionarischen Bemühungen eine Mischung aus traditionellen Parochialgemeinden und neuen Ausdrucksformen von Kirche umfassen. Es handelt sich daher nicht für eine Entscheidung für die traditionellen oder für neue Formen gemeindlichen Lebens, sondern um ein Sowohl-als-auch. Es geht nicht um ein Ersetzen, sondern um ein Ergänzen. Die Erfahrungen lassen noch reichhaltige Früchte erhoffen. Erzbischof Williams formulierte in seinem Vorwort zum Bericht Mission-shaped Church: „Wenn ,Kirche‘ dort Gestalt bekommt, wo Menschen dem auferstandenen Jesus begegnen und ihr Leben darauf ausrichten, diese Begegnung in der Begegnung miteinander fortzuführen und zu vertiefen, dann gibt es theologisch gesehen genügend Raum für eine Vielfalt bei Rhythmus und Stil.“ In diesem Sinn bieten die hier nachgezeichneten Entwicklungen eine ökumenische Lerngemeinschaft, aus der neue, kreative kirchliche Vergemeinschaftungsformen hervorgehen, die in Ergänzung zu bestehenden Strukturen und nicht notwendigerweise in Konkurrenz zu ihnen stehen. Dieser Prozess verlangt eine „Kultur der Fehlerfreundlichkeit“, da in diesem „Neuland“ naturgemäß häufig Pionierarbeit geleistet werden muss, die von der Leitung der Kirche vor allem ermöglicht, ermutigt und reflektiert werden sollte.
Erstveröffentlichung: Hermann, Markus-Liborius, „Mixed Economy“ und „Fresh Expressions of Church“. Erfahrungen der Church of England mit einer „Mission-Shaped-Church“ (gekürzte und leicht veränderte Fassung des Textes vom 11.2.2015).
- Cray, Graham, Kirche ganz frisch, in: Elhaus, Philipp u. a. (Hg.): Kirche2. Eine ökumenische Vision. Würzburg 2013. 29-38: 31.
- Cray, Graham, Kirche ganz frisch, in: Elhaus, Philipp u. a. (Hg.): Kirche2. Eine ökumenische Vision. Würzburg 2013. 29-38: 35.
- Völkers, Björn, freshx-inspirations. Glaubensgespräche im Tattoo-Studio, in: euangel 2/2015.