Das Himmlische Jerusalem

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Ein kleiner Rundgang durch den „neuen“ Hildesheimer Dom

„Wie kommt es, dass ausgerechnet die katholische Kirche so etwas Tolles hinbekommt?“ – „Kann man hier noch mitmachen?“: zwei Zitate, die deutlich machen, wie Kirchbauten missionarisch wirken können. Dr. Claudia Höhl, Direktorin des Hildesheimer Dommuseums, nimmt den/die LeserIn mit in den anlässlich des Bistumsjubiläums „Ein Heiliges Experiment“ umfangreich sanierten Hildesheimer Dom. Auf ihre Weise gibt sie so auch Antwort auf die Frage, wie die Gestaltung von Neuem aus Vergangenem gelingen kann.

Der Hildesheimer Domhof im Sommer 2015: Zahlreiche Menschen, Einzelbesucher und Gruppen beleben den neu gestalteten Platz mit großzügigen Rasenflächen, Sandstein, viel Grün und Sitzbänken. Ein Ort der Ruhe, frei von städtischer Hektik, einladend und gastfreundlich. Im neuen Domfoyer werden die Besucher begrüßt, hier gibt es gegen Spende Kaffee und Kaltgetränke, hier können Informationsmaterialien, Postkarten und Geschenkartikel erworben werden, und hier ist auch der Ausgangspunkt für die Führungen durch den Dom und das im April 2015 wiedereröffnete Dommuseum. Die Domführer begleiten die Gruppen durch das neu gestaltete Gotteshaus, das viele Menschen überrascht und beeindruckt. „Wie kommt es, dass ausgerechnet die Katholische Kirche so etwas Tolles hinbekommt?“, lautet eine der Fragen und eine andere: „Kann man hier noch mitmachen?“ Gemeint ist nicht die Teilnahme an der Führung, sondern ob man in der Kirche noch mitmachen kann, auch wenn man bislang kirchenfern gelebt hat. Die Resonanz ist groß und überwältigend positiv bei praktizierenden Christen ebenso wie bei den vielen zunächst primär kunst- und kulturinteressierten Besuchern. Offenbar treffen der Dom und die Gesamtgestaltung der Umgebung im positivsten Sinne den „Zeitgeist“, die Bedürfnisse der Menschen nach einem Raum, der Ruhe und Nachdenken ermöglicht und zugleich eine andere Dimension eröffnet. Aber was hat man in Hildesheim gemacht?

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Abb. 1 Blick in den Hildesheimer Dom
© Dommuseum Hildesheim, Foto Florian Monheim

Fast 50 Jahre nach dem Wiederaufbau des kriegszerstörten Hildesheimer Domes fasste das Domkapitel den Entschluss, die Domkirche selbst und das sie umgebende Ensemble baulich zu sanieren und als liturgisch-spirituellen Ort für das 21. Jahrhundert neu zu gestalten.

Der „neue“ Dom wirkt durch Schlichtheit und helle Weite. Seine wechselvolle Baugeschichte ist im Inneren an den verwendeten Materialien ablesbar geworden. Die Betonsäulen und die Fertigteildecke des Nachkriegswiederaufbaus sind ebenso deutlich kenntlich gemacht wie die neuen Beton- und Stahlsockel der historischen Ausstattungsstücke. Die Fensteröffnungen in der Mittelachse von Ostapsis und Krypta lenken den Blick auf den Rosenstock und schaffen eine besondere Verbindung von Innen- und Außenraum, von lebendigem liturgischem Ort und Verwurzelung in der Geschichte.

Der Rundgang führt den Besucher zur 1000 Jahre alten Bronzetür Bischof Bernwards. Auf zwei Bildflügeln umreißt sie die christliche Heilsgeschichte. In der Szenenfolge zum Buch Genesis erleben wir den Sturz des Menschen vom Geschöpf Gottes zum Mörder, denn das unterste Bildfeld des linken Flügels zeigt Kains Mord an seinem Bruder Abel. In umgekehrter Leserichtung führen die Bilder aus dem Neuen Testament von der Verkündigung an Maria bis zur Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena wieder hinauf zu Gott. Beim Betreten des Innenraums erinnert das bronzene Taufbecken aus dem 13. Jahrhundert an den eigenen Eintritt in die kirchliche Gemeinschaft. Die Taufe Christi im Jordan und alttestamentliche Szenen, die den Weg der Israeliten in das Gelobte Land zeigen, verbinden sich mit der Aufforderung zu Reinheit, Buße und Nächstenliebe. Der große Radleuchter Bischof Hezilos in der Mitte des Kirchenschiffs stellt das Himmlische Jerusalem vor Augen, das auf die Menschen herabkommt und schon jetzt in der Eucharistiefeier gegenwärtig ist. Die neue liturgische Mitte des Raums bildet der Altar von Ulrich Rückriem. Aus über 150 Millionen Jahre altem Stein geschaffen verweist er mit seinen Einschlüssen von Muscheln und Kleinlebewesen nicht nur auf die biblische Opfersteintradition, sondern auch auf die Schöpfungsgeschichte. Die Aussparung unter dem massiven Querblock ist vergoldet und nimmt Bezug auf den Schrein des hl. Bischofs Godehard, der sich in der Krypta direkt unter dem Altar befindet. Direkt über den Gebeinen dieses hochverehrten bischöflichen Seelsorgers feiert der Bischof heute Eucharistie. Der zweite Radleuchter im Hochchor kennzeichnet den Gebetsort des Domkapitels. In der Mittelachse vor dem zentralen Fenster der Ostapsis erhebt sich schließlich als Zielpunkt ein monumentaler Osterleuchter aus dem 11. Jahrhundert, der ein großes Bergkristallkreuz trägt, das neu für diesen Ort geschaffen wurde. Das Kreuz als Zeichen der Hoffnung auf die Wiederkehr Christi verbindet sich mit dem von Osten einfallenden Licht und den Trieben des Rosenstocks, Symbol immer neuen Lebens.

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Abb. 2 Bergkristallkreuz von Ulla und Martin Kaufmann © Dommuseum Hildesheim, Foto Florian Monheim

Im Querhaus, durch das der mittelalterliche Pilgerweg verlief, begegnet der Besucher den wichtigen Heiligen des Domes, neben Godehard von besonderer Bedeutung Bischof Bernward, der nicht nur die große Bronzetür schaffen ließ, sondern auch eine Bronzesäule, die ursprünglich zum Kreuzaltar in der von ihm gestifteten Klosterkirche St. Michael gehörte. Inspiriert von den Siegessäulen römischer Kaiser zeigt die Säule in einer spiralig aufsteigenden Bildfolge die wichtigsten Ereignisse aus allen vier Evangelien.

Am nordwestlichen Vierungspfeiler steht jetzt die Tintenfassmadonna, die aufwendig restauriert werden musste und sich heute in der Farbigkeit einer barocken Fassung präsentiert. Mit dem neuen Standort rückt das Bild der Dompatronin an jene Stelle, wo 1945 der in der Feuersglut der Bombardierung berstende Pfeiler zum Einsturz des Domes führte, und wird so zum Symbol der Hoffnung und des Wiederaufbaus.

Ein besonders wichtiges Ziel der Neugestaltung war die Vitalisierung der Seitenkapellen, deren Altarstellen nach der Reform liturgisch nicht mehr gebraucht werden. Auf der Nordseite wurden die beiden östlichen Kapellen zusammengelegt, so dass hier Raum für den Domchor und eine neue Chororgel entstand. Das ermöglichte den Rückbau der großen Orgelempore im Westen, die den westlichen Bereich stark verdunkelte und zudem die mittelalterlichen Emporen verdeckte. Am neuen Ort tritt der Chor außerdem als Mitgestalter der Messfeier im Sinne der Liturgiereform deutlich in Erscheinung. Die nach Westen anschließende Kapelle ist Ort des Beichtsakraments mit neuen Beichtstühlen, und in der westlichsten Kapelle der Nordseite schließt sich ein Raum für das persönliche Gebet vor der mittelalterlichen Pietà an, bewusst in der Nähe des Nordwestportals, um auch dem Kurzbesucher einen angemessenen Ort des Innehaltens zu bieten.

Auf der Südseite hat sich in der ersten Kapelle von Westen der einzige Barockaltar des Domes erhalten, der Barbaraaltar. Der Stifter Bischof Jobst Edmund von Brabeck ist hier bestattet, damit erinnert diese Kapelle an die Menschen, die über 1200 Jahre den Dom und seine Ausstattung geprägt haben. In der nächsten Kapelle stehen die barocken Figuren des Propheten Jesaja und des Apostels Philippus, der durch den Bericht der Taufe des äthiopischen Kämmerers in der Apostelgeschichte besonders mit dem Taufsakrament verbunden ist. Außerdem sind hier die silbernen Gefäße für die heiligen Öle aufgestellt, die in der Chrisammesse geweiht werden. Mit der thematischen Ausrichtung auf die Sakramente korrespondiert diese Kapelle mit dem Taufort im Mittelschiff und der Beichtkapelle auf der Nordseite. Die seit dem 12. Jahrhundert im Hildesheimer Dom nachgewiesene besondere Verehrung der Hll. Drei Könige greift das barocke Altarbild aus dem Rubensumkreis in der nächsten Kapelle auf, hier wird auch die Weihnachtskrippe ihren Platz finden. Die Dompatronin steht im Zentrum des barocken Immaculataaltars von Paul Egell in der letzten Kapelle, der die in den Himmel aufgenommene Gottesmutter zwischen ihren Eltern Joachim und Anna zeigt.

Das Querhaus greift in seiner neuen Gestaltung die alte Funktion des Pilgerweges auf. Seit dem Mittelalter betraten die Pilger den Dom von der Nordostseite, wo bereits das Figurenprogramm des von Lippold von Steinberg am Beginn des 15. Jahrhunderts gestifteten Nordparadieses die Pilger auf die Heiligen des Domes einstimmte, im Zentrum Maria, flankiert von Epiphanius links und Godehard mit dem Gründungsreliquiar rechts. Die angrenzende, zur selben Stiftung gehörende sogenannte Steinbergkapelle mit ihren mittelalterlichen Wandmalereien ist jetzt wieder als Andachtsraum in Funktion.

Im Inneren des Domes steht in der oberen Wandnische des Nordquerhauses der sogenannte Epiphaniusschrein oder Schrein der Dompatrone, in dem Reliquien aller ältesten Dompatrone geborgen sind, während in der darunterliegenden alten Cäcilienkapelle das Büstenreliquiar der Heiligen aus dem Domschatz seinen Platz gefunden hat. Ihre Verehrung in Hildesheim geht auf das 9. Jahrhundert zurück, die Epoche des ersten von Bischof Altfried initiierten Dombaus, von dem sich die Krypteneingänge mit fragmentarischen Darstellungen von Heiligenkrönungen in den Bogenfeldern erhalten haben.

In der Krypta setzt sich die Achse der Heiligen mit dem Schrein des hl. Godehard fort, der als vorbildlicher Bischof europaweite Verehrung genoss. In der Mittelachse der Krypta hinter dem Altar wurde wieder das wichtigste mittelalterliche Gnadenbild des Domes aufgestellt, die wohl von Bischof Gerhard vom Berge gestiftete gotische Madonnenfigur, in deren Sockel jetzt das karolingische Gründungsreliquiar eingelassen ist, so dass dieser Ort mit dem Blick auf die Wurzeln des Rosenstocks in besonderer Weise an den Ort der Bistums- und Domgründung erinnert.

Abb. 3 Blick in die Krypta des Hildesheimer Doms © Dommuseum Hildesheim, Foto Florian Monheim

Im südlichen Querhaus steht wieder die von Bischof Bernward ursprünglich für den Kreuzaltar der Michaeliskirche gestiftete Bronzesäule mit ihrer neutestamentlichen Bilderfolge. Neu im Dom ist die Reliquienbüste Bernwards in der gegenüberliegenden Nische. Gemeinsam mit der Säule markiert dieser Raumteil jetzt den Platz für die Erinnerung an den zweiten heiligen Hildesheimer Bischof neben Godehard.

Die vor der Schließung als Sakristei genutzte Laurentiuskapelle mit ihrem mittelalterlichen Baudekor dient als Sakramentskapelle und damit Ort des stillen Gebets vor dem Tabernakel, den Lioba Munz im Rahmen der Nachkriegsausstattung des Domes geschaffen hat.

Der Kreuzgang mit dem Rosenstock, einer der schönsten Orte Hildesheims, ist jetzt frei zugänglich. In der sogenannten Kleinen Annenkapelle ist ein Erinnerungsort an die Kriegszerstörung entstanden, den Gerd Winner mit einer modernen Fotoinstallation gestaltet hat, in die er eine beim Bombenangriff schwer beschädigte Anna selbdritt integrierte.

Der obere Kreuzgang bildet den Zugang zum neuen Dommuseum, das im April 2015 eröffnet wurde und den ebenfalls zum Hildesheimer Weltkulturerbe gehörenden Domschatz in einer neuen Raumfolge und Präsentation zeigen wird. Damit wird das Gesamtensemble Hildesheimer Dom in einer völlig neuen Qualität wahrnehmbar sein.

Im Auslobungstext des Domkapitels zum Architektenwettbewerb aus dem Jahr 2005 findet sich folgende Formulierung: Ziel der Maßnahme solle sein, dass „die Gedanken und Pläne zur Neuordnung in Verantwortung gegenüber dem Erbe der Geschichte, in Demut gegenüber der Weihe, Widmung und Würde des Gotteshauses und gegenüber den sorgsam bedachten Anliegen unserer Zeit auf ein Ganzes ausgerichtet sind, über die Bedürfnisse des Augenblicks hinausweisen und anknüpfen an eine beispielhafte Tradition des Ortes in Geist und Gestalt“. Dank mutiger Entscheidungen der Verantwortlichen und dem großen Einsatz aller Beteiligten ist es gelungen, dieses Ziel zu erreichen.