Die Bezeichnung kirchlicher Einrichtungen als Kirchort ist in vieler Munde. Dennoch handelt es sich um ein recht neues Konzept, das teilweise nur nominell umgesetzt wird. Clemens Frenzel-Göth, Bereichsleiter Kindertagesstätten im Caritasverband für die Diözese Mainz, gibt Hinweise, wie eine echte Ausgestaltung der Kita zum Kirchort gelingen kann – und was eine Überforderung der Mitarbeitenden vor Ort darstellen würde.
1. Man stelle sich vor
Die Kirchengemeinde Maria Königin ist Trägerin einer katholischen Kindertageseinrichtung, und die ist voll belegt. Die Kinder fühlen sich wohl, die Eltern kommen gern und fühlen sich aufgehoben, sie haben sich selbst organisiert mit einem Elterncafé. Der pensionierte Förster lädt jeden ersten Samstag im Monat alle Familien zur Exkursion in den nahe gelegenen Wald ein. Jeden Tag kommen zwischen fünf und zehn Eltern in die Kita, um mit ihren und anderen Kindern zu essen. Ach übrigens, zweimal pro Woche kommt auch der Seelsorger der Pfarrgemeinde dazu. Montags kommt die Konzertpianistin aus Lärchenwald in die Kita, um zu singen und den Kindern über den Gesang die Welt der Musik zu erschließen. Es bestehen Kooperationen mit dem Hospizverein, der auch schon mehrfach anlässlich des Todes von Großeltern, Eltern, aber auch von Mitarbeitenden und (Geschwister-)Kindern einfühlende Gespräche gesucht hat. Die Erziehungsberatungsstelle ist wöchentlich an zwei Vormittagen mit einer offenen Sprechstunde präsent. Im Flur sind Informationen ersichtlich, für alle Lebenssituationen. Ein „Info-Board“ gibt Eltern die Möglichkeit, Dinge untereinander zu verkaufen und wechselseitig zugänglich zu machen. Die katholische Jugend (KJG) bietet Babysitterdienste an. Die katholische öffentliche Bücherei ist in die Kita verlagert und hat das Buchangebot auf die Bedarfe von Familien mit Kindern ausgerichtet. Ehrenamtliche Lesepatinnen, mehrere 70-jährige Großeltern mit eigenen Enkelkindern, die weit weg wohnen – natürlich alle mit erweitertem Führungszeugnis –, kommen dreimal die Woche und kuscheln sich mit Kindern in die beiden Hängematten.
In der Kita trifft man auf eine Kultur der Achtsamkeit im Umgang miteinander, Menschen hören hin und sich genau zu, fragen nach, haben viel Geduld mit den Entwicklungsprozessen der Kinder – aber auch den eigenen. In der Kita sind einige Rechte der Kinder nachzulesen: unter anderem das Recht auf Beteiligung und auf körperliche Unversehrtheit. Das veröffentlichte Leitbild spricht von der Achtung der Prinzipien der katholischen Soziallehre, von der Personalität, der Solidarität und der Subsidiarität. Die Fachkräfte besprechen regelmäßig die Lebenssituation der Kinder und Familien. Eltern als Experten sind eingeladen, im Rahmen eines Elternabends allen anderen anwesenden und interessierten Eltern ihre eigenen Kinder vorzustellen.
In der Kita gibt es täglich oder wöchentlich – wenn auch nur kurze – Momente des Innehaltens, der Rückschau, der Vergewisserung, des Rückbindens an den Einen, auf den wir vertrauen und an den wir glauben.
Die pädagogischen Fachkräfte werden theologisch begleitet in den – hoffentlich auch gestellten – Fragen nach dem, was sie in ihrem Leben trägt, nach ihrer – je nach Alter oft nicht mehr ganz so klassisch ausgeprägten – eigenen Spiritualität, nach ihren Hoffnungen, Wünschen und Sehnsüchten. Für elterliche Gespräche steht auch wöchentlich ein Seelsorger zur Verfügung.
Kann in etwa so eine „Leitstelle für soziale Prozesse und Kirchort auf Zeit“ in concreto beschrieben werden?
Ich meine ja, und auch nein.
Ja: Es braucht Visionen von Beteiligung und Wertschätzung, von Achtsamkeit und Begrenzung, von Öffnung und Inspiration, von Standhaftigkeit und Entwicklung, von Nähe und Distanz.
Nein: Eine Angebotspalette, die sich an den Bedarfen der Familien insgesamt – die bekanntlich quasi unbegrenzt sind – orientiert und der von ihnen erwarteten ausgeprägten Haltung der Achtsamkeit, des Hinhörens und der umfassenden Beteiligung Rechnung trägt, überfordert die Kräfte in den Betreuungseinrichtungen, die ohne zusätzliches Personal die neue Kundschaft Familie als Gesamtsystem – und nicht mehr Eltern überwiegend in der Rolle als Erziehungs- und Bildungspartner – sozusagen auferlegt bekommen.
2. Unsere Kitas und Familienzentren im Bistum Mainz
2.1. Projekt „Kita als Familienzentrum“
Wir haben seit dem Jahr 2007 zwei Staffeln „Kita als Familienzentrum“ mit insgesamt 50 von insgesamt 210 Kindertageseinrichtungen im Bistum Mainz durchgeführt. Die Fördersumme für beide Projekte wurde durch Kirchensteuermittel im hohen sechsstelligen Bereich finanziert.
Unser Ansatz bestand in folgenden Entwicklungszielen:
- Eltern und Erzieherinnen sind Partner in der jeweiligen und gemeinsamen Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder.
- Kindertagesstätten entwickeln ihre Angebote mit und im Hinblick auf Familien.
- Durch das gemeinsame Engagement von Kindern, Eltern sowie haupt- und ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt sich eine lebendige Gemeinschaft von und für Familien.
- Kindertagesstätten verstehen sich als Teil ihres Sozial- und Pastoralraums und gestalten diesen mit.
- Ein erkennbares Profil der Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder ist beschrieben, wird überprüft und weiterentwickelt.
Bedeutsam war in allen diözesanen Workshops und regionalen Projekt- und Steuerungsgruppen: Es ging uns nicht um das „Mehr“, sondern um das „Anders“; um Reflexion des Bestehenden und die behutsame Weiterentwicklung von Angeboten.
2.2. Grundorientierungen für die Caritasarbeit
Als Verband haben wir parallel zu diesen – und vielen anderen Prozessen in allen drei Fachbereichen des Diözesanverbandes – vier Grundorientierungen für die Caritasarbeit im Bistum Mainz definiert; an dieser Stelle unterfüttert mit Beispielen aus den Kindertageseinrichtungen:
(1) Teilhabe und Teilgabe
Wir wollen Kinder und Familien in ganz vielen Prozessen und Aktivitäten beteiligen. Dazu braucht es eine zugewandte Haltung und die eigene Sicherheit, dass der/die andere die eigene Arbeit bereichert.
Ich denke gerne an die eine Kita-Leitung, die ich begleitet hatte, die sich aus der Vorbereitung des Sommerfestes herausgezogen hatte und diese Aufgabe einer Mitarbeitenden und Eltern überließ. Es war ihr merklich „anzuspüren“, dass sie es kaum aushalten konnte, diese Aufgabe wirklich zu delegieren. Und das Ergebnis: Das Sommerfest gelang und … Oder aber: Es wurde anders.
(2) Sozialraum- und Pastoralraumorientierung
Unsere Einrichtungen (auch Beratungsdienste und stationäre Altenhilfeeinrichtungen) sind keine Inseln für sich. Der Sozial- und Pastoralraum entfaltet sich auf mindestens zwei Ebenen: dem „Begegnungsraum Kindertagesstätte“ und dem „Sozialraum der Kindertagesstätte“. Unsere Kindertagesstätten selbst verstehen sich als soziale Begegnungsräume – in erster Linie für Kinder und Eltern, die unsere Einrichtungen besuchen, sowie für unsere Mitarbeitenden. Diese Erfahrung der Unterschiedlichkeit positiv zu begleiten und gegenseitigen Respekt und Achtung zu fördern, erachten wir als christlichen und gesellschaftspolitischen Auftrag. Zugleich sind unsere Kindertagesstätten Teil größerer sozialgeografischer Räume in der Kommune, im Stadtteil. Zudem sind sie Teil von Pastoralräumen, die nicht mit den Sozialräumen identisch sein müssen.
Diese Erfahrung der Unterschiedlichkeit positiv zu begleiten und gegenseitigen Respekt und gegenseitige Achtung zu fördern, erachten wir als christlichen und gesellschaftspolitischen Auftrag.
Die Kita hat eine Sozialraumanalyse erstellt, die Strukturen und Angebote sind bekannt, eine Mitwirkung von VertreterInnen der Kindertageseinrichtung am örtlichen Runden Tisch ist klar. Dass die Leitung der Kita in ihrer Rolle an den Pfarrgemeinderatssitzungen teilnimmt, ihre Weiterentwicklung anlassbezogen präsentiert und auf offene Ohren des pastoralen Leitungsgremiums trifft, ist gesetzt.
(3) Bedarfsorientierung
Um Kinder und Familien in qualifizierter Weise anzusprechen und auf ihre Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten einzugehen, ist es notwendig, sich an der Lebenswirklichkeit vor Ort zu orientieren und sich mit ihr auseinanderzusetzen.
In der 2. Staffel des Projektes Kita als Familienzentrum wurden in 47 Kindertageseinrichtungen, unterstützt durch ein wissenschaftliches Institut, 2.500 Eltern nach ihren Bedarfen gefragt. Diese Befragungen wurden einrichtungsbezogen ausgewertet und der örtlichen Ziel- und Maßnahmenplanung zugrunde gelegt.
(4) Ehrenamtsorientierung
„Ehrenamtliches Engagement gehört schon immer zum Selbstverständnis in Caritas und Kirche. Ohne die Ideen und das Engagement der Eltern und Personensorgeberechtigten wäre eine Kita an Erfahrungen ärmer“, so der Generalvikar des Bistums Mainz in der Arbeitshilfe Nr. 4, Handlungsempfehlungen für ehrenamtliche Mitarbeit in Katholischen Tageseinrichtungen im Bistum Mainz.
Nichts ist kostenlos. Die Arbeit der Leitung ändert sich: Der ehrenamtlich tätige, pensionierte Schreiner, der die Holzwerkstatt der Kita betreut, geht vor Aufnahme seiner Tätigkeit erst einmal ins Büro der Leitung und sagt: „Jetzt müssen Sie mir erst einmal zuhören, sonst kann ich nicht mit den Kindern arbeiten!“ … Und wieder ist eine halbe Stunde Arbeitszeit der Leiterin in seelsorgliches Handeln für Menschen im Sozialraum investiert.
2.3. Qualitätsentwicklung
Wir haben vor zehn Jahren begonnen, Qualitätsentwicklungsprozesse aufzustellen, seit einigen Jahren auf der Grundlage des KTK-Gütesiegels, dem Bundessiegel des Verbandes Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK). 17 Kindertageseinrichtungen aus dem Bistum haben das Bundessiegel erhalten, weitere streben es an. Qualitätsmanagement ist für die Arbeit der Kindertageseinrichtungen im Bistum Mainz ein Instrument – und kein Ziel. Mit dem Qualitätsmanagement werden wichtige pädagogische und organisatorische Prozesse der eigenen Praxis reflektiert, beschrieben und überprüft. Die im Fachbereich angesiedelte Qualitätsstelle hat für die Kindertagesstätten im Bistum Mainz ein Rahmenhandbuch erarbeitet, welches bistums- und landesseitige Normen darlegt, in dem zugleich Prozesse beschrieben sind, welche von der jeweiligen Kita übernommen oder überarbeitet werden können, und das des Weiteren auch Raum lässt, die eigene, weiter gehende Praxis zu beschreiben.
Katholische Kindertageseinrichtungen und Familienzentren sind für uns offene Häuser und pastorale Begegnungsorte von Familien. Alle Familien aus dem Sozial- und Pastoralraum sind willkommen. Als Erfahrungs- und Lernorte des gelebten Glaubens und der Begegnung mit Kirche lassen sie Familien eine Kultur liebevoller Gemeinschaft im Geiste Jesu Christi erleben und schaffen Raum und Angebot für die Lebens- und Glaubensfragen der Eltern. Als Familienzentren unterstützen, entlasten und stabilisieren sie Familien, insbesondere Familien in schwierigen Lebenslagen, durch konkrete, an ihren Bedürfnissen ausgerichtete Angebote der (religiösen) Familienbildung, -beratung und -hilfe, die in ihnen institutionell verankert sind. Die Weiterentwicklung der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren ist konkreter Ausdruck einer im Wesen diakonisch und auf Gemeinschaft hin ausgerichteten Kirche. Daher trägt die Pfarrgemeinde bzw. die pastorale Einheit die Entwicklung zum Familienzentrum aktiv mit.
Katholische Familienzentren im Bistum Mainz verstehen sich als offene Häuser und im Sozial- und Pastoralraum vernetzte Kindertageseinrichtungen. Ihr Anliegen: Sie wollen pastorale Orte der Begegnung, Beratung, Betreuung, Begleitung, Beteiligung sein.
3. Kita als Kirchort
Die folgenden Passagen sind den zum 01.03.2016 in Kraft getretenen Pastoralen Richtlinien des Bistums Mainz entnommen. Kardinal Lehmann hat sie als Handlungs- und Ausführungsrichtlinien für das Bistum Mainz veröffentlicht. Sie wenden sich an Leitungen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den katholischen Kindertageseinrichtungen und an ihre Träger, an Pfarrer und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den pastoralen Einheiten und an ihre Pfarrgemeinde- bzw. Seelsorge- und Verwaltungsräte sowie an unterstützende Institutionen der Kirche und ihrer Caritas.
Einige weitere Aspekte unseres Verständnisses der Kita als Kirchort sind darin skizziert (Hervorhebungen von mir):
- „Die Fragen und das Leben der Kinder sind auch Anfragen an den Glauben der Erwachsenen. Das bedeutet: Auch sie müssen sich und ihren Glauben diesen Fragen aussetzen. Nur dann können die Antworten verstehbar und glaubwürdig sein und in einem Bezug zum Leben stehen. Deswegen geht es als Erstes darum, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun, und wer sie als Menschen und Christen sind. Im Glauben sind Kinder und Erwachsene zugleich Suchende, Lernende und Vermittelnde.“
- „Die Kindertagesstätte/das Familienzentrum ist Ort der Kirche, Teil der Pfarrgemeinde bzw. der pastoralen Einheit und selbst elementar gemeindlich. […] Kindertagesstätte und Familienzentrum sind gemeindliche Orte des Glaubens neben und mit anderen. Als solche sind sie Knoten im pastoralen Netz, ‚geistliche Erfahrungsorte‘ und ‚Kristallisationspunkte im pastoralen Raum‘.“
- „Die Zusammenarbeit aller Mitarbeitenden und Institutionen der pastoralen Einheit ist eine wesentliche Voraussetzung für ein gemeinsames familienunterstützendes und ‑bereicherndes Angebot für Kinder und ihre Familien im Sozialraum.“
- „Als Lebensort für junge Familien ist die Pastoral der Kindertagesstätte und des Familienzentrums integraler Bestandteil eines Rahmenkonzepts von Familienpastoral des Bistums und in der pastoralen Einheit. Pfarrgemeinde bzw. pastorale Einheit und Kindertageseinrichtung bzw. Familienzentrum verstehen Familienpastoral als gemeinsamen Auftrag.“
- „Die an die katholischen Kindertageseinrichtungen gestellten Anforderungen hinsichtlich eines katholischen Profils werden durch pastorale Begleitung als gemeindliche Orte unterstützt und in ihrer Entwicklung begleitet. Zugleich fördert das Pastoralteam die Vernetzung mit anderen gemeindlichen Akteuren.“
- „Die pädagogischen Fachkräfte und Teams in der pastoral-theologischen Reflexion der Praxis zu unterstützen, stellt die vorrangige Aufgabe einer pastoralen Begleiterin/eines pastoralen Begleiters dar.“
- „Durch die Einrichtung einer ‚AG Kita und Familie‘ entwickelt und koordiniert die Pfarrgemeinde bzw. die pastorale Einheit gemeinsam mit der Kindertageseinrichtung/dem Familienzentrum das Angebot von Familienpastoral. Die ‚AG Kita und Familie‘ ist sichtbarer Ausdruck der intensiven Zusammenarbeit von Pfarrgemeinde bzw. pastoraler Einheit und Kindertageseinrichtung/Familienzentrum sowie dafür, dass der familienpastorale Auftrag für den Sozial- und Pastoralraum gemeinsam wahrgenommen wird.“
Kita als Kirchort – ja, viele Kitas sind mittendrin, mitten im Leben.