Kirche – Berufung – Heiligkeit – Taufe
Wem gilt eigentlich der Aufruf gemeinsam Kirche zu sein? Pater Reinhard Körner OCD, geboren 1951 in Cottbus, ist Karmelit und arbeitet als Leiter des Exerzitienwerkes des Teresianischen Karmel in Deutschland und als Autor von Veröffentlichungen über Geistliche Theologie, geistliches Leben und Mystik. In seinem Grundlagenbeitrag reflektiert er das erste Kapitel von „Gemeinsam Kirche sein“ für ein Verständnis von christlicher Berufung und Kirchesein.
Einmal wird es die Kirche nicht mehr geben. Am Ziel der Zeit, in Gottes Ewigkeit. Das im Blick zu behalten, hilft uns, dass wir uns als Kirche nicht zu wichtig nehmen.
Aber zwischen dem, was einmal sein wird, und dem, was jetzt ist, liegt ein Weg: der Weg Gottes mit seiner Schöpfung. Gott geht ihn mit allen Menschen, in jeder einzelnen Lebensgeschichte. Die Kirche ist zwar, mit der Bibel gesprochen, das „Volk Gottes“, doch das ist nicht so zu verstehen, als wären alle anderen Völker für Gott weniger wert oder als hätte er sie gar verworfen. Es bedeutet vielmehr, dass Gott mit der Hilfe dieses einen Volkes – des „alten“ und des „neuen Bundes“ – alle Völker, also jeden Menschen, zu dem Ziel führen möchte, für das er die Welt ins Dasein rief. Einmal, am Ziel der Zeit, in Gottes Ewigkeit werden – nach seinem Willen – alle Menschen „Kirche“ sein. Und bis dahin braucht uns Gott auf seinem Weg mit den Menschen, mit seinen Menschen. Das im Blick zu behalten, hilft uns, dass wir unsere Aufgabe als Kirche sehr wichtig nehmen.
Das Schreiben der deutschen Bischöfe Gemeinsam Kirche sein atmet diesen ganz und gar biblischen Geist. Es macht ihn zum Programm für die Erneuerung und Zukunftsgestaltung der katholischen Kirche in unserem Land. Zusammenfassend heißt es im Schlusswort: „Wir wollen gemeinsam Kirche sein für alle Menschen.“ Nach den Jahrhunderten des immer stärker gewordenen Kreisens der Kirche um sich selbst und fünf Jahrzehnte nach dem „neuen Pfingsten“ im Zweiten Vatikanischen Konzil erinnern die Bischöfe uns – und sich – wieder an den eigentlichen Sinn der Kirche in Gottes Welt.
Das Kapitel 1 legt vor allen weiteren theologischen und pastoralen Erörterungen dazu den spirituellen Grundstein. Es geht darin um die „allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche“. Mit dieser Formulierung hatte das Konzil von der Grundspiritualität gesprochen, die einen Menschen zum Christen macht und die allen, die zur Kirche gehören, gemeinsam ist, gleich, ob sie Laienchristen, Kleriker (Diakon, Priester, Bischof) oder Ordensleute sind.
Die Verfasser sind deshalb sichtlich darum bemüht, sich so auszudrücken, dass ihr Schreiben für alle verständlich ist. Dennoch bleibt es, gerade in diesem grundlegenden Kapitel, viel zu lehrhaft-theoretisch, bisweilen auch zu floskelhaft, als dass es tatsächlich von allen verstanden werden könnte. Vielen Kirchenmitgliedern würde dieser Text, würden sie ihn lesen, gar nichts sagen. Darin zeigt sich – einmal mehr – eines unserer Hauptprobleme beim „Kirche sein für alle Menschen“: Wir tun uns schwer, unseren Glauben verstehbar zu vermitteln; die Bischöfe nicht ausgenommen.
Wollen wir wirklich „für alle Menschen“ Kirche sein, kommen wir nicht mehr drum herum, unsere kirchliche (und konfessionelle) Binnensprache – unser „Kirchisch“, wie wir inzwischen scherzhaft sagen – in die Sprache und Erfahrungswelt der „normalsprachigen“ Menschen zu übersetzen. Das ist natürlich nicht nur eine Frage der Vokabeln. Es geht dabei vor allem um ein Verständlich-Machen der Inhalte, für die die Wörter der Glaubenssprache stehen. Und dieses Bemühen ist längst auch innerhalb der Kirche fällig. Papst Franziskus setzt hier von Beginn seines Pontifikats an Maßstäbe, sowohl in seinen Predigten als auch in den kirchlichen Dokumenten.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, das Kapitel 1, für das ich um einen „geistlichen Impuls“ gebeten wurde, entsprechend umzuschreiben. Was ich anbieten kann, ist lediglich eine Art „Lesehilfe“, oder realistischer wohl: eine „Vermittlungshilfe“ für diejenigen, die das Schreiben der Bischöfe in die Gemeinden hinein bekanntmachen wollen. Das will ich versuchen, indem ich von meiner eigenen Erfahrung her ein paar Anregungen gebe, wie die „kirchischen“ Worthülsen zumindest der zentralen Begriffe dieses Kapitels aufgeknackt werden könnten und ihr Inhalt auch für Christen, denen der Text nicht viel sagt, verständlich und persönlich-spirituell mitvollziehbar gemacht werden kann. Es sind dies vor allem die Begriffe Kirche, Berufung, Heiligkeit und Taufe. An ihnen hängt das Verständnis des gesamten Kapitels und darüber hinaus des Schreibens der Bischöfe überhaupt.
Belastungen des Wortes Kirche
Das Wort Kirche kann kaum negativer belastet sein, als es heute, in Deutschland jedenfalls, ist. Auch bei sehr vielen Christen selbst, trotz der Erneuerung, die von Papst Franziskus ausgeht. Wenn auch mancherorts die kirchliche Welt ganz in Ordnung zu sein scheint und – das ist besonders im Ostteil Deutschlands zu beobachten – auch viele trotz aller Enttäuschung und Ernüchterung sich in der Kirche und für die Kirche engagieren: Mit dieser Aussage übertreibe ich nicht. Das Kommunikationsproblem der in der Seelsorge Tätigen in unserem Land, nach innen und nach außen hin, rührt meines Erachtens unter anderem daher, dass zu viele von ihnen sich dieser Tatsache noch immer zu wenig bewusst sind oder sie übergehen. Der ehrliche Blick für die Realität ist hier gefragt; die christliche Spiritualität nennt das Demut (= Leben in der/mit der Wahrheit).
Ausschlaggebend für die Zukunft wird sein, dass die Kirchenmitglieder – und möglichst auch Gottes „andere“ Menschen – zumindest darum wissen, dass in dem Wort Kirche mehr steckt als nur das, was so viele gemeinhin damit verbinden. Bildungsarbeit ist nötig. Der Text versucht sie zu leisten. Er füllt das Wort Kirche positiv mit Hilfe der biblischen Bilder „Volk Gottes“, „Leib Christi“, „Tempel des Heiligen Geistes“ und des neutestamentlichen Begriffs „ecclesia“. Das ist zwar theologisch richtig, dürfte aber für die Mehrheit der Christen nur „fromm“ klingen und angesichts des Bildes, das sie von „der Kirche“ haben, nicht wirklich hilfreich sein.
Ich mache in meinen Kursen mit Christen aus dem gesamten deutschen Sprachraum die Erfahrung, dass sich eine positive Sicht am besten und für alle gut nachvollziehbar am Wort Kirche selbst vermitteln lässt. Es trägt die wichtigste Wesensbeschreibung von Kirche schon in sich und ist zugleich wie eine Kurzformel christlicher Grundspiritualität: „Kirche“ ist ein Lehnwort, es hat sich über das alt- und mittelhochdeutsche „kiricha/kiriche“ aus dem frühchristlichen griechischen Wort „kyriaké“ herausgebildet. Darin steckt das auch heute aus den Gottesdiensten bekannte „Kyrie“, mit dem wir, wie die Christen damals schon, den „kýrios“, den „Herrn“ Jesus Christus, ansprechen. Das weibliche Adjektiv, ursprünglich in der Verbindung „kyriaké ekklesía“ gebraucht, bedeutet: „zum kýrios, zum Herrn, gehörend“. Die Kirche ist also eine Gemeinschaft von Menschen, die zu Jesus Christus gehören – in beiderseitigem Sinne, von Christus her wie von den Christen her betrachtet: Jesus Christus sieht uns als zu sich gehörend an und wir verstehen uns als zu ihm gehörend.
Diese Erklärung vom Wortsinn selbst her ist meiner Erfahrung nach eingängig. Und sie lässt sich schon in einer kurzen Predigt vermitteln bzw. immer wieder einmal in Erinnerung bringen. Verbinde ich sie dann mit den Fragen: „Bin ich Kirche?“ und „Mit wem bin ich Kirche?“ wird daraus für den Einzelnen eine je persönliche, spirituelle Herausforderung …
Es wird dann auch schnell einsichtig: Ich bin immer zusammen mit anderen Kirche, weil nun mal zum Kyrios Jesus Christus, jedenfalls von ihm her betrachtet, nicht nur ich allein gehöre (im Übrigen auch nicht nur eine Konfession allein), sondern immer auch andere, gleich wie intensiv und wie glaubwürdig oder nicht sie ihre – und ich meine – Jesus-Zugehörigkeit leben.
Ein neuer Berufungsbegriff
Mehrmals ist in diesem ersten Kapitel von Berufung die Rede. Im Allgemeinen denken katholische Christen dabei an Priester und Ordensleute. Nur von ihnen ist man gewohnt zu sagen, dass sie eine Berufung haben; der normale Christ dagegen und selbst die in der Kirche Tätigen, die nicht geweiht sind und nicht dem Ordensstand angehören, haben lediglich einen „weltlichen“ oder „kirchlichen“ Beruf – so ist der übliche Sprachgebrauch.
Der Text aber bezieht das Wort Berufung auf alle Christen. Das ist für viele neu und ungewohnt. Damit sie verstehen können, dass auch sie damit gemeint sind, muss das Wort entsprechend gefüllt werden. Und zwar von ihrer eigenen Erfahrung her, denn Berufung ist ein Faktum und ein je persönliches Widerfahrnis in ihrer Lebensgeschichte: Da fühlt sich jemand „angerufen“/angesprochen vom christlichen Glauben – wie intensiv oder weniger intensiv auch immer. Und das muss ihm bewusst gemacht und mit dem Wort Berufung in Verbindung gebracht werden, etwa so: Dass man angesprochen ist vom christlichen Glauben, daran Interesse hat, vielleicht sogar davon berührt ist, das ist ebenfalls eine Berufung; und weil das auch bei dir so ist, bist du also berufen, Christ zu sein.
Auch lehrt sie die eigene Erfahrung, dass sich Berufung zum Christsein jeder menschlichen – und kirchlichen – Machbarkeit entzieht. Sie kann durch andere zwar ins Bewusstsein gebracht – „geweckt“ –, nicht aber durch andere erzeugt werden. Kein Bischof kann einen Menschen zum Christen berufen, und keine Mutter, selbst bei noch so gutem Vorbild, ihre Kinder zu Christen „machen“. „Glaube ist Gnade“, sagten die Alten. Vom christlichen Glauben angesprochen, ja berührt, und, wie der Text sagt, vom Evangelium „ergriffen“ zu sein, ist eine Gabe, die von einer größeren Macht ausgeht. Auch diese Erfahrung muss geweckt und kann nicht einfach nur gelehrt werden. Nur dann haben Worte im Text wie „Ruf Gottes“ und „von Jesus Christus berufen“ eine Chance, als Wirklichkeit im eigenen Leben erkannt zu werden – „in der Persönlichkeit und Lebensgeschichte eines Menschen“, wie die Bischöfe sagen.
Was bedeutet Heiligkeit?
Der Text der Bischöfe spricht mit dem Konzil von der Berufung zur Heiligkeit. Hier sind sich die Autoren der „problematischen Vorstellungen“, die sich „heute bei nicht wenigen“ mit diesem Wort verbinden, durchaus bewusst. Und sie bringen das auch den Leserinnen und Lesern gegenüber gut nachvollziehbar zum Ausdruck. Die positive Füllung dieses biblischen Wortes bleibt allerdings, wohl für die Mehrheit der Adressaten des Schreibens, wiederum eher floskelhaft.
Bei der Hinführung zu einem angemessenen Verständnis lässt sich meiner Erfahrung nach am besten beim allgemeinen Sprachgebrauch anknüpfen: Das Wort „heilig“ wird – nicht nur von Christen – ja auch im positiven, zumindest vorurteilsfreien Sinne gebraucht. „Heilig“ ist für viele Menschen einfach das, was mit Gott und mit Religion zu tun hat. Darüber hinaus wird dieses Wort verwendet im Sinne von: „Das ist mir heilig!“ – gemeint ist dann: Das ist mir wichtig, das lasse ich mir nicht so schnell nehmen …
Wir sind „zur Heiligkeit berufen“, kann also übersetzt werden mit: Wir Christen sind Menschen, denen Gott heilig ist; wir fühlen uns vom christlichen Glauben so angesprochen, dass er uns einfach wichtig ist – zumindest ist das ein erster Zugang zu dem, was in „kirchischer“ Formulierung „allgemeine (= allen Christen gemeinsame) Berufung zur Heiligkeit“ genannt wird.
Der Gebrauch des Wortes Taufe
Ein besonderes Problem ist der Gebrauch des Wortes Taufe. Siebzehn Mal wird auf den wenigen Seiten des ersten Kapitels von „Taufe“ und „Getauften“ gesprochen. Hier wie auch sonst in der Glaubensverkündigung besteht das Problem darin, dass „Taufe“ gesagt wird, wo eigentlich das gemeint ist, was die Taufe zum Ausdruck bringt, was sie als Sakrament, als „heiliges Zeichen“, bezeichnet und vermittelt. Formulierungen im Text wie „Berufung durch die Taufe“ oder „aufgrund von Taufe und Firmung berufen“ kommen dann nur oberflächlich an – einmal abgesehen davon, dass die meisten Christen ihre eigene Taufe ohnehin nicht „miterlebt“ und daher keinen persönlich-existenziellen Bezug zu ihr haben.
Was Christen verbindet, ist nicht „die Taufe“, sondern das, wofür die Taufe steht. „In der Taufe wird einem Menschen zugesagt, dass sein Leben unter der unverbrüchlichen Zusage der Liebe Gottes steht“, heißt es im Text – und das muss vermittelt werden! In einem Schreiben an alle Christen aber verständlicher und klarer, als die Autoren es tun. Und vollständiger vor allem, denn die „Zusage“ Gottes heißt, dem Evangelium Jesu entsprechend, nicht nur: „Du bist von Gott geliebt“, sondern zugleich: „Du bist von Gott zum Lieben begabt!“ Wo diese Zusage im Herzen angekommen ist, da wissen sich Menschen wirklich in ihrer Berufung verbunden; der Taufritus allein verbindet sie bestenfalls darin, Kirchenmitglieder zu sein.
Und diese Verbundenheit erfahren umso mehr diejenigen, die nicht nur von der Botschaft Jesu, die uns in der Taufe zugesagt wird, sondern von Jesus selbst „ergriffen“ sind und die zur Lebensgemeinschaft mit ihm und seinem Abba-Gott gefunden haben. Solche Menschen erkennen einander, und sie sind von innen her miteinander Kirche, auch über Konfessionsgrenzen hinweg.
Für Alle
„Der christliche Glaube ist mir wichtig, er gehört zu meinem Leben. Ich bin dankbar, dass Gott meinen Lebensweg so geführt hat, dass ich zu diesem Glauben finden konnte. Und dass es um mich herum ein paar Menschen gibt, mit denen ich ihn teilen und vertiefen kann. Mit ihnen zusammen bin ich gern Kirche! Auch mit Priestern, Ordensleuten, der Gemeindereferentin und dem Bischof – wenn ich erlebe, dass auch ihnen der Geist des Evangeliums wichtig ist, auch zwischen ihnen und Jesus Christus innerlich etwas läuft, sie uns Gläubige ernst nehmen und sie als Schwestern und Brüder mit uns umgehen …“ – ein Mensch, der das sagen kann, der ist Christ, nicht nur „Kirchenmitglied“. Er hat das in sich, wovon die Bischöfe im ersten Kapitel ihres Schreibens sprechen.
Und solche Menschen sind da. Es gibt sie unter den Engagierten in den Gemeinden, und es gibt sie unter den scheinbar „Fern“-Stehenden.
Dass sie „für alle Menschen“ Kirche sind, auch für die, die ihren Glauben nicht teilen, muss man solchen Christen nicht erst sagen. Sie leben mit den religionslosen und anders-religiösen Mitmenschen als Nachbarn im selben Mietshaus und im Dorf, sie haben sie als ihre Kinder und Enkelkinder oder auch als ihren Ehepartner in ihrer Familie. Sie wünschen ihnen aus ganzem Herzen, dass auch sie aus dem Geist leben könnten, der ihnen so wichtig und so heilig ist. Aber sie wissen auch, dass sie mit ihnen zusammen erst einmal Menschen sind – unabhängig davon, welcher Religion sie angehören und ob sie religiös oder religionslos leben. Wenn ihnen die Bischöfe das nun schreiben, ist das für sie nichts Neues.
Neu ist für sie nur, dass wohl nun auch die Bischöfe zu dieser Einsicht gekommen sind! Und das wird sie, wenn sie das Schreiben Gemeinsam Kirche sein in verständlicher Sprache vermittelt bekommen, sehr freuen. Es wird ihnen wieder Hoffnung geben für die Kirche in unserem Land.
Solche Menschen werden ihren Bischöfen und Priestern dann aber auch die Frage stellen wollen, ob die Umstrukturierung der Kirche in große Seelsorgeeinheiten und Pastoralverbände, von der dann das 6. Kapitel spricht, tatsächlich geeignet ist, „gemeinsam Kirche für alle Menschen“ zu sein. Ihre Erfahrung vor Ort lehrt viele zunehmend etwas anderes …